Fünfzehn Jahre lang war Helenes Körper unversehrt, dann nicht mehr. Dann sind Männer gekommen und Kinder, die ganze verschissene Welt, sie haben ihn kaputt gemacht, und ja, vielleicht hat Helene ihn am Ende selbst zerschmettert, aber eigentlich nicht.
Was für ein Buch, Leute!
Mitten in der Pandemie, in einem der zahlreichen Lockdowns, sitzt Helene gemeinsam mit ihrem Mann und ihren drei Kindern beim Essen, steht auf, geht zum Balkon – und springt. So beginnt Mareike Fallwickls fulminanter Roman und genauso intensiv geht er weiter. Wir erleben, wie hart die Trauer Helenes 15-jährige Tochter Lola und Helenes beste Freundin Sarah trifft, und wir erleben vor allem, wie sehr sich das Leben der beiden von da an ändert. Aber eben hauptsächlich für die beiden – Helenes Mann bleibt weitestgehend unbetroffen. Denn Sarah zieht bei ihnen ein, Sarah kümmert sich gemeinsam mit Lola um den Haushalt und die beiden Jungs.
Fallwickl macht hier schon früh schmerzhaft deutlich, wie unsichtbar weibliche Arbeit ist – und wie selbstverständlich sie auch in Extremsituationen wieder von Frauen übernommen wird. Der Tod der Mutter bedeutet keinen Zusammenbruch des Systems, sondern lediglich eine Umverteilung: von einer Frau zur nächsten.
Was passiert, wenn Mütter sterben? Andere Frauen übernehmen ihre Aufgaben. Während Lola als feministische, „woke“ junge Frau immer mehr zu sich selbst und zu ihrer lang angestauten Wut auf das System und das Patriarchat findet, macht Sarah mit ihrer rund 40 Jahre internalisierten Misogynie nur langsame Fortschritte. Aber: Auch Sarah wird immer wütender. Besonders stark fand ich, wie Fallwickl hier zwei Generationen von Frauen gegenüberstellt: Lola, die ihre Wut benennen, politisieren und kollektiv leben kann – und Sarah, deren Leben von Anpassung, Selbstverleugnung und dem ständigen Versuch geprägt ist, „es richtig zu machen“. Diese Gegenüberstellung wirkt nie belehrend, sondern schmerzhaft real.
Das Buch zeigt nicht nur, was es heißt, eine Frau in unserer modernen, patriarchalischen Gesellschaft zu sein, sondern auch, wie wenig Wertschätzung Frauen, insbesondere Müttern, entgegengebracht wird, wie System, Politik und Gesellschaft sie komplett alleine lassen und gerade in den Pandemiejahren radikal versagt haben. Systemische Missstände, veraltete Rollenbilder, der Kampf darum, gehört, gesehen und respektiert zu werden, ungleich verteilte Care-Arbeit und Mental Load, an denen Frauen sich kaputtschuften, Sexismus und sexualisierte Gewalt – viele Szenarien, viele Sätze sind ein ziemlicher Schlag in die Magengrube.
Fallwickl verwebt dabei private Schicksale mit gesellschaftlicher Analyse, ohne dass es je wie ein Thesenroman wirkt. Die Wut, die hier erzählt wird, ist keine abstrakte, sondern eine körperliche, erschöpfte, jahrzehntelang aufgestaute Wut – eine, die sich aus tausend kleinen Zumutungen speist.
Wir treffen hier auf rohe Wut in ihrer ursprünglichsten Form, personifiziert von Lola, Sunny und ihren neuen Freundinnen – und trotzdem ist es ein Buch, das sich nicht nur darauf fokussiert, sondern Solidarität, Schwesternschaft und Zusammenhalt in den Fokus rückt, ein Buch, das trotz allem, was in der Geschichte passiert und im echten Leben passiert, gleichzeitig eine warme, hoffnungsvolle Umarmung ist.
Gerade dieser Balanceakt macht „Die Wut, die bleibt“ so besonders: Es ist ein wütender, lauter Roman, der nichts beschönigt – und gleichzeitig ein zutiefst solidarischer Text, der Räume für Verbundenheit, Fürsorge und kollektive Gegenwehr öffnet.
Ich finde ja persönlich, dass Mareike Fallwickl zu den wichtigsten Stimmen der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur gehört, aber auf mich hört ja keiner. Mit diesem Roman hat sie ein Buch geschrieben, das weh tut, aufrüttelt und lange nachhallt – eines, das man nicht einfach liest und zur Seite legt, sondern das sich festsetzt.
Übrigens: Falls ihr mal die Chance habt, zu einer ihrer Lesungen zu gehen, tut es. Es war ein intensiver, inspirierender Abend, Mareike ist großartig auf der Bühne. Ganz viel Liebe für diese Frau.

