Haruki Murakami – Die Stadt und ihre ungewisse Mauer

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Magisch, meta, Murakami. Die Stadt und ihre ungewisse Mauer überzeugt als neuster Roman des japanischen Kultautors und wird eingefleischte Fans besonders freuen, ist aber kein Werk, das durch Innovation und revolutionäre Umsetzung besticht.

„Ich hörte den gelben Regenmantel des Mädchens neben mir rascheln. Es klang, als würden die Ränder der Welten aneinander reiben.“

Als er siebzehn ist, verliebt sich unser namenloser Protagonist in ein Mädchen, das ihm von einer geheimnisvollen Stadt erzählt, in der die Zeit nicht existiert. Wer hier leben möchte, muss sich zuvor von seinem Schatten trennen – und kann die Stadt nie wieder verlassen. Unser Protagonist versucht, diese Stadt so gut es geht festzuhalten, doch eines Tages verschwindet seine Freundin plötzlich ohne jegliche Spur.

Jahrzehnte später kündigt unser Protagonist seinen Job in der Großstadt, um, einem merkwürdigen Traum folgend, in eine entfernte Kleinstadt zu ziehen und dort als Bibliotheksleiter ein komplett anderes, viel ruhigeres Leben zu führen. Doch die Vergangenheit lässt ihn nicht los. Er findet einen Weg in die Stadt und muss sich entscheiden: will er wirklich sein altes Leben aufgeben und hier bleiben, bei dem Mädchen, das er einst liebte, das ihn jetzt aber nicht mehr wiedererkennt?

Aufgepasst: dieses Buch ist ein Murakami nach Rezept – vielleicht sogar noch mehr, als die meisten anderen seiner Romane (Stichwort: Murakami Bingo). Die Stadt und ihre ungewisse Mauer wurde ursprünglich vor Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt geschrieben, hat allerdings 40 Jahre benötigt, um nach mehreren Überarbeitungen endlich zu erscheinen. Somit ist es nun vielmehr eine Ergänzung, ein Folgeroman, der noch einmal nähere Einblicke in die geheimnisvolle Stadt aus einem von Murakamis populärsten Werken bietet und eine deutlich andere sowie auch kritischere Perspektive auf die scheinbare Idylle eröffnet.

Die Hauptstory ist klassisch: eine Frau verschwindet, der Protagonist schmeißt seinen Job hin und lässt sich von unbekannten Kräften treiben. Worum es eigentlich geht: um das Leben, um den Tod, das Weitermachen, das Selbst, die Sehnsucht, Erinnerungen, Flucht und Ankommen, Verbundenheit, die Wirklichkeit und die Dinge, für die es sich lohnt zu kämpfen. Seltsame, aber liebenswerte Nebencharaktere sorgen hier wieder für den besonderen Wohlfühlfaktor: insbesondere der schweigsame Junge, der täglich in die Bibliothek kommt, sowie der kauzige, rocktragende ehemalige Bibliotheksleiter sind wundervoll typische Murakami-Figuren.

Sprachlich fand ich den Roman irgendwie feinfühliger als seine Vorgänger, was man gerade in den ersten Kapiteln bemerkt, als der Erzähler mit seiner Jugendliebe zusammen ist. Wie gewohnt wurde das Buch natürlich wieder hervorragend ins Deutsche übersetzt von Ursula Gräfe.

„Vielleicht bleibt uns nichts anderes übrig, als uns verzweifelt an die eine Wirklichkeit zu klammern wie die Besatzung eines sinkenden Segelschiffes an den Großmast. Ob es uns gefällt oder nicht.“

Was ich auch richtig spannend fand: das Buch ist stellenweise – oder vielleicht sogar komplett – metaliterarisch, durch die eigenen Referenzen und Verbindungen, die sich bei Murakami immer ergeben (wiederkehrende Motive, ähnliche Figuren, etc.) und hier im Besonderen noch mehr (da der Roman so eng mit einem anderen Werk verknüpft ist). Dazu erwähnt der Protagonist die Romane von Gabriel García Márquez und den Magischen Realismus als Genre, das fand ich herrlich augenzwinkernd.

Im Nachwort zitiert Murakami zudem Jorge Luis Borges und erklärt, dass genauso sein Verständnis von Literatur und Autorschaft ist: man erzählt nur eine begrenzte Anzahl von Geschichten, nutzt immer wieder dieselben Motive, ordnet aber jedes Mal alles neu an. Kommt euch bekannt vor? Genau, es ist nämlich das, was er hier selbst mit diesem Werk macht.

Haruki Murakamis Die Stadt und ihre ungewisse Mauer ist kein Buch, was einen so richtig vom Hocker haut wie Hard-boiled Wonderland, Kafka am Strand oder 1Q84, aber das muss es auch gar nicht. Denn es ist ein richtiges Comfort Book durch und durch – gerade für regelmäßige Murakami Leser:innen. Aber auch Murakami-Neulinge könnten hier einen magischen, spannenden und unterhaltsamen Einstieg in sein Universum finden. Ich persönlich habe sehr gemocht und wahnsinnig gerne gelesen.

„Ängste zu überwinden, die sich einmal im Kopf festgesetzt haben, ist keine leichte Sache.“

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