
Tess Guntys Debütroman Der Kaninchenstall etablierte sie im letzten Jahr als eine der wichtigsten jungen Stimmen in der modernen amerikanischen Literatur – völlig zurecht.
Der Kaninchenstall spielt in der fiktiven Stadt Vacca Vale in Indiana. Die zentrale Protagonistin des Romans ist Tiffany, die sich mittlerweile Blandine nennt, eine 18-jährige Jugendliche, die von ihrer letzten Pflegefamilie in eine WG in den stadtbekannten, heruntergekommenen Wohnblock namens „Kaninchenstall“ gezogen ist. Blandine ist hochintelligent und sensibel, aber auch sehr eigen. Schon auf den ersten Seiten erfahren wir, dass die Geschichte vermutlich kein gutes Ende nehmen wird. Oder wird sie das?
In einer heißen Nacht verlässt Blandine Watkins in Apartment C4 ihren Körper. Sie ist erst achtzehn Jahre alt, aber sie hat sich die längste Zeit ihres Lebens gewünscht, dass dies geschehen würde.
Von Anfang an offenbart sich der Roman als Kaleidoskop der Abgehängten. Blandine ist ohne Eltern aufgewachsen, ohne Freunde, und wurde von einer Pflegefamilie zur nächsten gereicht. Auf der Suche nach Anerkennung und Zuneigung wurde sie an der High School von ihrem Theater-Lehrer gegroomed, missbraucht und ausgenutzt – in Folge dessen hat sie nicht nur die Schule geschmissen und ihr Stipendium verfallen lassen, sondern kämpft auch noch lange danach mit den emotionalen Auswirkungen. Auch ihre Hobbys sind alles andere als alltäglich: sie liest viel über ihre Vorbilder, die großen Mystikerinnen des Mittelalters, allen voran Hildegard von Bingen, und wünscht sich ähnlich transzendentale Erfahrungen, um endlich die grausame Realität hinter sich lassen zu können.
Wir erhalten nicht nur Einblick in Blandines Leben, sondern auch in die mittelmäßigen, monotonen Leben anderer Kaninchenstallbewohner. Eigentlich alle Figuren sind hier sehr verschroben, gleichzeitig aber auch relatable: eine Frau, die Online-Nachrufe schreibt und die entsprechenden Beileidsbekundungen moderiert, eine junge Mutter mit postpartaler Depression und einem Baby mit furchteinflößenden Augen, ein Rentner, der für seine Frau widerwillig einen Feldzug gegen Nagetiere führt. Umweltaktivismus trifft auf Anonymität trifft auf Hass im Netz trifft auf die Auswirkungen der Wirtschaftskrise: Alle Figuren und Storylines, die Gunty hier einführt, sind überaus aktuell und realitätsnah.
Manchmal malt Moses Robert Blitz – einziges Kind von Elsie Jane McLoughlin Blitz – seinen ganzen Körper mit der Flüssigkeit aus kaputten Knicklichtern an, verschafft sich Zutritt zum Haus des Feindes und weckt den Feind auf. Dann zappelt er in der Dunkelheit herum, nackt und leuchtend.
Manche der Geschichten ihnen sind mehr miteinander verbunden, andere weniger, aber alle formen gemeinsam ein großes, bedrückendes und doch komisches Ganzes. Wechseln sich anfangs und gegen Ende noch regelrechte Episoden aus den einzelnen Apartments ab, fokussiert sich der Mittelteil hauptsächlich auf Blandine und Ihre Vergangenheit – ein ziemlicher Bruch im Erzähltempo und Lesefluss, für mich jedoch ein sehr willkommener.
Zwei weiteren Figuren wird neben Blandine etwas mehr Zeit und Raum gegeben: einer von ihnen ist der Moses, Sohn eines gefeierten TV-Sternchens, der unter mysteriösen psychischen und physischen Beschwerden leidet und einen äußerst merkwürdigen Racheakt plant, nachdem sein Onlinekommentar unter dem Nachruf seiner Mutter gelöscht wurde. Die andere Person ist einer von Bladines drei männlichen Mitbewohnern: ein junger Mann, dessen Verehrung für Blandine immer mehr Richtung Obsession geht, und der sich gemeinsam mit seinen anderen Mitbewohnern in einem sturen Konkurrenzkampf immer weiter aufschaukelt und anstachelt.
Ein Psychologe hatte die Theorie, dass ich traumatische Erinnerungen verdrängte, vielleicht dissoziierte, und ich wollte ihm glauben. Es hätte erklärt, wie künstlich sich alles anfühlte, wie einsam und digital. Dass ich häufig jemandem wehtun wollte, nur um zu sehen, ob wir beide echt waren, jemandem ins Gesicht schlagen, nur wegen des Nervenkitzels.
Der Kaninchenstall ist extrem aktuell in seiner Sprache und seinen (pop)kulturellen und gesellschaftlichen Referenzen. Obwohl die Thematiken und die Atmosphäre trostlos, teilweise auch düster sind, macht es einfach unfassbar Spaß, dieses Buch zu lesen, weil es gleichzeitig einen sehr eigenwilligen Humor hat – es ist ziemlich deprimierend, gleichzeitig aber herrlich verrückt, temporeich und messerscharf in seinen gesellschaftlichen Beobachtungen.
Es ist ein eindringliches Porträt einer Gesellschaft am Rande des Abgrunds, wirtschaftlicher Verlierer einer schwächelnden Region. Vacca Vale, das im amerikanischen Rust Belt in Indiana liegt, war einst eine florierende Kleinstadt. Doch mit der Pleite des Autokonzerns Zorn ging alles bergab: Geschäfte sind verlassen, Jobs weggebrochen, viele Leute haben die Stadt verlassen. Die, die geblieben sind, sind ausnahmslos unglücklich, unzufrieden, benachteiligt. Lichtblicke, Hoffnungsschimmer und Sinnhaftigkeit gibt es für einen Großteil der Menschen trotz anstehender Revitalisierungspläne für die Region nicht. Es ist von allem zu viel, die Figuren sind ebenfalls überzeichnet – perfekt also, um auch die Leser*innen die Überforderung und das Gefangensein spüren zu lassen.
Tess Guntys Roman Der Kaninchenstall erzählt von Einsamkeit, Sehnsucht und der Suche nach einem Platz im Leben, von Wut, Hoffnungslosigkeit und dem Ausbrechenwollen aus einem tristen Alltag. Er ist weird, er ist dreckig, er ist am Ende ganz schön brutal, und genau das hat ihn für mich zu einem absolut fantastischen Leseerlebnis gemacht. Übrigens hervorragend ins Deutsche übersetzt von Sophie Zeitz. Definitiv eines der besten Bücher in diesem Jahr!
