Caleb Azumah Nelson – Open Water

Caleb Azumah Nelson - Open Water Rezension

Poetisch, kraftvoll und roh – Open Water von Caleb Azumah Nelson ist ein meisterhafter Roman über die Realität Schwarzer Identität in Großbritannien und die Suche nach Zugehörigkeit.

Im Mittelpunkt der Geschichte stehen ein namenloser junger Fotograf und eine Tänzerin, deren Verbindung als Freundschaft beginnt und sich langsam zu einer innigen Liebe entwickelt. Sie finden in dem jeweils anderen ein Zuhause, eine Zuflucht in einer Welt, die oft unbarmherzig ist. Doch ihre Beziehung bleibt nicht unberührt von äußeren Einflüssen: Polizeigewalt, Alltagsrassismus und der ständige Generalverdacht gegen Schwarze Menschen in London stellen ihre Liebe auf die Probe.

How strange a life you and other black people lead, forever seen and unseen, forever heard and silenced. And how strange it is to carve out small freedoms, to have to tell yourself that you can breathe.

Azumah Nelson zeigt eindrücklich, wie es ist, gleichzeitig sichtbar und unsichtbar zu sein – unter ständiger Beobachtung zu stehen, aber dennoch nicht wirklich gesehen zu werden. Denn darum geht es eigentlich, unter der Oberfläche der Liebesbeziehung: die Suche nach Freiheit, die Schwierigkeit, sich in einer Welt zu behaupten, die dich immer wieder daran erinnert, dass du „anders“ bist. Was bedeutet es, ein junger Schwarzer Mann in einer Stadt wie London zu leben, die mit all ihren Möglichkeiten auch Bedrohungen birgt? Was bedeutet Freiheit, wenn sie nur für einige von uns gilt?

I dance to breathe but often I dance until I’m breathless and sweaty and I can feel all of me, all those parts of me I can’t always feel, I don’t feel like I’m allowed to. It’s my space. I make a little world for myself, and I live.

Die Kunst wird in Open Water zur Sprache des Widerstands, des Ausdrucks und der flüchtigen Freiheit. Ob Fotografie, Literatur, Tanz, Malerei oder Musik – für den Protagonisten und seine Bekannten sind diese Formen der Selbstexpression ein Mittel, um dem Leben einen Sinn zu geben und sich für wenige Momente von den Lasten des Alltags zu befreien. Und Musik durchzieht den Roman nicht nur inhaltlich, sondern auch stilistisch: Azumah Nelsons Sprache hat eine rhythmische Qualität, die an Jazz oder Soul erinnert. Wiederholungen und Variationen einzelner Sätze verleihen dem Text einen musikalischen Fluss, der mich absolut mitgerissen hat.

Besides, sometimes, to resolve desire, it’s better to let the thing bloom. To feel this thing, to let it catch you unaware, to hold onto the ache. What is better than believing you are heading towards love?

Besonders eindrücklich war für mich die Verletzlichkeit und Ablehnung traditioneller Männlichkeit. Unser Protagonist kämpft mit der Angst, seine eigene Zerbrechlichkeit zu akzeptieren und sich anderen Menschen zu öffnen. In einer Welt, die ihn ständig bedroht, scheint es einfacher, sich zu verschließen, und doch liegt in der Nähe zu seiner Partnerin eine Rettung, eine Form der Heilung. Diese Angst, gepaart mit der lähmenden Vorstellung, dass jeder Tag der letzte sein könnte, weil ein einziger Moment am falschen Ort mit den falschen Menschen alles verändern könnte, war für mich streckenweise nur schwer zu ertragen.

Die Safe Spaces, die Azumah Nelson porträtiert, wie Bars, Clubs oder Barbershops, in denen Schwarze Menschen sich sicher, verstanden und angenommen fühlen können, waren neben der Beziehung zwischen dem Protagonisten und der Tänzerin kleine Hoffnungsschimmer, Zeichen von Gemeinschaft, Verbundenheit und Trost. Denn trotz allem Schmerz, trotz allem Leid, ist dieser Roman so unglaublich zärtlich erzählt, ganz ohne jeglichen Kitsch oder Pathos. Dass die gesamte Geschichte mit all ihrer Vielfalt an Themen, Motiven und Gefühlen nicht einmal 150 Seiten im Original umspannt, finde ich besonders beeindruckend: sie sagt so viel in so wenigen Worten, ohne dabei an Wirkkraft zu verlieren oder zu oberflächlich zu bleiben.

Something has come undone. You are scared. You know what you want but you don’t know what to do. This pain isn’t new but it is unfamiliar, like finding a tear in a piece of fabric. You cry so hard you feel loose and limber and soft and newborn. You want to pull and push and mould yourself back together.

Die Du-Ansprache, die Azumah Nelson in seinem Roman verwendet, verstärkt die emotionale Intensität der Geschichte. Es fühlt sich an, als würde der Protagonist direkt zu uns Leser:innen sprechen, uns einladen, seine Perspektive einzunehmen und seine Welt durch seine Augen zu sehen. Literatur hat die Macht, andere Realitäten erfahrbar zu machen – und Open Water ist ein leuchtendes Beispiel dafür, wie eindrucksvoll das gelingen kann.

Mit Open Water hat Caleb Azumah Nelson ein Debüt geschaffen, das international gefeiert wurde. Der Roman wurde mit dem Costa First Novel Award ausgezeichnet und fand seinen Platz auf den Long- und Shortlists zahlreicher Literaturpreise. Die deutsche Übersetzung ist unter dem Titel Freischwimmen im Kampa Verlag erschienen, seit letztem Jahr ist bereits der zweite Roman des Autors zu kaufen.

You came here to tell her you are sorry that you wouldn’t let her hold you in this open water. You came here to tell her how selfish it was to let yourself drown. You came here to tell the truth. That you are scared and heavy. That sometimes this weight is too heavy. The ache in your chest fills, bulbous and stretched, and though you whish it would, the ache will not burst.

Es ist noch ziemlich früh für eine solche Aussage, aber für mich gehört dieses Buch zweifellos zu den besten, die ich in diesem Jahr gelesen habe und lesen werde. Vielleicht sogar zu den besten, die ich jemals gelesen habe, darüber muss ich noch eine Weile nachdenken. Es bleibt lange im Gedächtnis, hallt nach, fordert heraus und berührt tief. Wenn ihr Ocean Vuong, Tommy Orange und James Baldwin mögt, gebt diesem Roman eine Chance – und er wird euch umhauen.

Hinterlasse einen Kommentar

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..