2024 war glaube ich für mehr oder weniger alle ein herausforderndes Jahr, in dem viel passiert ist. Eine zuverlässige Konstante dabei waren aber die Bücher, vor allem gute Bücher, einnehmende Geschichten und kluge Beobachtungen.
Vorsätze für das neue Jahr machen wir uns wieder einmal nicht, weder allgemein noch aufs Lesen bezogen. Auch ein Jahresziel an gelesenen Büchern haben wir nicht festgelegt, das ist einfach nichts für uns und oft nicht mit weiteren Hobbys, dem Leben in all seinen Facetten und unvorhergesehenen Wendungen vereinbar. Unser Wunsch für 2025 lautet daher: tolle Bücher lesen, neue Autor: innen entdecken, unzählige Stunden in anderen Welten und Lebensrealitäten verbringen, erkunden, dazulernen, abtauchen, abschalten, genießen, ein breites Spektrum an Gefühlen fühlen.
2024 hat das alles ganz gut geklappt mit folgenden Büchern:
Camille Laurens – Es ist ein Mädchen
Für den Vater der Erzählerin ist in den 60er Jahren eine Tochter weniger wert als ein Sohn. Von Anfang an ist ihr Leben von der Enttäuschung gezeichnet, die sie ihrem Vater bereitet und die auch danach weiter ihre Entwicklung prägt. Scharfsinnig erzählt Camille Laurens in diesem autofiktionalen Roman, was es für ein Mädchen bedeutet, wenn auf die Frage „Haben Sie Kinder?“ mit „Nein, ich habe zwei Mädchen“ geantwortet wird.
Paul Lynch – Prophet Song
Eilish Stark versucht verzweifelt ihre Familie zu beschützen, während in einem autokratischen Irland nach und nach ein Bürgerkrieg ausbricht. Bedrückend und nah beschreibt Paul Lynch Eilishs täglichen Kampf. Mit seiner eindringlichen und bildhaften Sprache zieht er seine Leser:innen immer tiefer in diesen immer verzweifelteren Kampf ums Überleben.
Tobias Ginsburg – Die letzten Männer des Westens
Das hier ist kein normales Sachbuch, das ist investigativer Journalismus. Misogyne, antisemitische, rassistische, traditionalistische, wütende, enttäuschte, gewaltbereite Männer sind überall. Mitten unter uns, wie Ginsburg zeigt, denn er hat sich Jahre lang unter sie gemischt, sich mit ihnen getroffen, unterhalten, sie befragt, versucht, sie zu verstehen. Von klassischen Burschenschaften über einsame Incels und geldgeile Männer-Coaches bin hin zu rechtsradikalen Rappern und einflussreichsten Politikern – ein zutiefst schockierendes und zugleich erhellendes Buch.
Eliza Clark – She’s always hungry
Eine Kannibalenkönigin, ein sirenenartiges Fischwesen in einer matriarchalischen Gesellschaft oder eine auf einem fremden Planeten verursachte, mysteriös leuchtende Wunde: Diese Stories sind zwischen Mythologie, Science Fiction und Body Horror angesiedelt, düster, morbide, ekelhaft, beunruhigend, gesellschaftskritisch und absurd komisch.
Hami Nguyen – Das Ende der Unsichtbarkeit
Das Sachbuch ist eine Mischung aus sehr persönlichen Ereignissen und Erfahrungen sowie strukturellen Betrachtungen zu anti-asiatischem Rassismus in Deutschland und behandelt neben dem Pogrom in Rostock Lichtenhagen 1992 auch die Art und Weise, wie wir Gastarbeiter:innen behandelten, die Hypersexualisierung und Fetischisierung insbesondere asiatischer Frauen* und die Betrachtung vietnamesischer Einwanderer:innen als „Vorzeige-Immigrant:innen“. Spannend, nachvollziehbar, informativ und stellenweise herzzereißend bringt uns Nguyen ein Thema näher, das schon viel früher in der breiten Öffentlichkeit hätte beleuchtet werden müssen.
Karl Ove Knausgård – Der Morgenstern
Während des eigentlich beschaulichen norwegischen Sommers beginnen die Tiere auf einmal sich unnatürlich zu verhalten und plötzlich steht ein neuer Stern am Himmel, dessen Auftauchen niemand erklären kann. Unter dem Stern spielen sich die verschiedenen Lebenskrisen der Figuren ab, die lose miteinander verknüpft sind. Es sind die großen Fragen nach der menschlichen Existenz, Glauben und Wissen, denen Knausgård hier nachgeht – und brilliert dabei mit einer herausragenden Figurenzeichnung.
Layla Martinez – Heiligenbilder und Heuschrecken
Atmosphärisch dicht, sprachlich eine Wucht (insbesondere die Kapitel in extrem mündlicher Sprache), herrlich düster und unfassbar wütend berichtet Martinez aus den Perspektiven einer jungen Enkelin und ihrer Großmutter, die beiden dazu verdammt sind, zwischen den Geistern der Vergangenheit in dem Haus ihrer Familie zu leben. Auf nur knapp 160 Seiten beleuchtet dieser kurze Roman zahlreiche gesellschaftliche Themen, verpackt in eine moderne Erzählweise und garniert mit einem Spritzer Female Rage/ Unhinged Women.
Sophia Fritz – Toxische Weiblichkeit
Das Sachbuch beleuchtet und dekonstruiert die verschiedenen Rollen der Frau in unserer Gesellschaft, ist dabei sehr persönlich und für mich extrem relatable. Vieles ist nicht neu, aber exzellent kontextuiert und dabei leicht verständlich und zugänglich verpackt.
Mareike Fallwickl – Die Wut, die bleibt
Mitten in der Pandemie, in einem der zahlreichen Lockdowns, sitzt Helene gemeinsam mit ihrem Mann und ihren drei Kindern beim Essen, steht auf, geht zum Balkon – und springt. Ein beeindruckendes Buch über systemische Missstände, veraltete Rollenbilder, der Kampf darum, gehört, gesehen und respektiert zu werden, ungleich verteilte Care-Arbeit und Mental Load, an denen Frauen sich kaputtschuften, Sexismus und sexualisierte Gewalt.
Mariana Leky – Kummer aller Art
Zahlreiche kurze Vignetten über die Herausforderungen und Absurditäten des Alltags. Die Geschichten sind geprägt von einer feinen Beobachtungsgabe und einem tiefen Verständnis für menschliche Schwächen, und mit Witz, Weisheit und literarischem Feingefühl erzählt. Das ist mit Abstand das herzerwärmendste Buch, das ich in den letzten Jahren gelesen habe.
Fatma Aydemir & Hengameh Yaghoobifarah (Hg.) – Eure Heimat ist unser Albtraum
Sasha Marianna Salzmann, Sharon Dodua Otoo, Max Czollek, Mithu Sanyal, Olga Grjasnowa, Margarete Stokowsk und weitere liefern eindringliche, wichtige Texte über Rassismus und Antisemitismus in unserer aktuellen deutschen Gesellschaft. In sehr persönlichen Essays schreiben sie darüber, dass Heimat eben nicht für alle Heimat bedeutet, und wie vielfältig nicht nur unser Land ist, sondern vor allem auch die Ausgrenzung, die tagtäglich so viele Menschen erfahren. Ein herausragender Sammelband ganz ohne Fülltexte, der eigentlich Pflichtlektüre an Schulen und Unis werden sollte.
Lana Lux – Geordnete Verhältnisse
Die Geschichte einer intensiven und obsessive „Freundschaft“, einer toxische Beziehung, häuslicher Gewalt, emotionaler Abhängigkeit, ganz viel misogyner Scheiße und psychischer Erkrankungen. Ich habe so sehr mit Faina mitgefiebert und Philipp mit jeder einzelnen Minute mehr verachtet. Das war ein richtiges Erlebnis!
Habt ihr schon etwas von unseren Highlights gelesen? Was ist auf eurer Bestenliste gelandet?
Honorable Mentions:
Mona Chollet – Hexen
Alice Hasters – Identitätskrise
Kate Elizabeth Russell – Meine dunkle Vanessa
Jacqueline Harpman – I who have never known Men


