Susanna Clarke ist nach 16 Jahren mit einem neuen Roman zurück: Doch so interessant Piranesi auch ist, kann er nicht an die Klasse von Jonathan Strange & Mr. Norrell anknüpfen.
Piranesi lebt in Dem Haus, das mit seinen tausenden von Sälen und wiederkehrenden Fluten viele Geheimnisse birgt. Bloß Menschen gibt es hier keine – außer Piranesi und Dem Anderen. Der Andere war es auch, der Piranesi seinen Namen gab. Denn an seinen eigentlichen Namen und an sein Leben vor Dem Haus kann er sich nicht mehr erinnern. Sowieso scheint er in letzter Zeit immer vergesslicher zu werden. Gut, dass er ohnehin immer Aufzeichnungen führt. So fallen ihm auch plötzlich merkwürdige Dinge und Ungereimtheiten auf…
Ich besuche alle Toten, vor allem aber das Zusammengefaltete Kind. Ich bringe ihnen Essen, Wasser und Seerosen aus den Versunkenen Sälen. Ich spreche mit ihnen, erzähle ihnen, was ich mache, und schildere ihnen sämtliche Wunder, die ich im Haus entdecke. Auf diese Weise wissen sie, dass sie nicht allein sind.
Susanna Clarke hat sich krankheitsbedingt enorm viel Zeit gelassen mit ihrem neuen Buch. Ihr erster und auch letzter Roman, Jonathan Strange & Mr. Norrell, liegt schon fast zwei Jahrzehnte zurück. Danach sind Erzählungen von ihr erschienen, die aber leider bisher nicht ins Deutsche übersetzt wurden. Umso größer war natürlich auch die Vorfreude, als Piranesi angekündigt wurde – und umso größer natürlich auch die Erwartungshaltung.
Piranesi startet sehr gemächlich. Es gibt zwar viel zu entdecken als Leser, aber eigentlich noch nicht viel Handlung. Der Mann, der Piranesi genannt wird, führt Tagebuch über seinen Alltag in Dem Haus. Er berichtet davon, durch die Säle zu wandern, Pläne zu erstellen und die Überreste der Toten zu besuchen, die überall im Haus verstreut liegen. Ab und zu trifft er sich mit Dem Anderen, einem geheimnisvollen Mann mit Brille und Anzug, der Piranesis Hilfe benötigt, um durch seltsame Rituale das Geheime Wissen zu erlangen.
So dauert es auch etwas, bis ich richtig warm werde mit dem Roman. Auf den ersten 50 Seiten frage ich mich noch, ob das Buch wirklich so spannend sein kann – obwohl mir das mysteriöse Ausgangsszenario gefällt, das mich ein wenig an Margaret Atwoods Oryx & Crake erinnert. Doch sobald Clarke die ersten kleinen Hinweise streut, mir die ersten Abweichungen auffallen, wird es schwierig, das Buch aus der Hand zu legen.
Ich vergaß beinahe zu atmen. Einen Moment lang spürte ich eine Ahnung davon, wie es sein könnte, wenn es statt zwei Menschen auf Der Welt Tausende gäbe.
Als Leser ist man Piranesi immer einen Schritt voraus. Wir wissen zwar auch nur das, was er erzählt, doch ärgerlicherweise kann er die Hinweise nicht so schnell als solche erkennen. Die Hintergründe Des Hauses und Piranesis, die sich langsam offenbaren, waren wirklich spannend, doch kein Vergleich zum Worldbuilding in Jonathan Strange & Mr. Norrell. Auch hat es mir gefehlt, richtig in die Geschichte hineingezogen zu werden. Das lag vor allem an der nüchternen Sprache, dem naiven und mir fremd bleibenden Hauptcharakter und an der für mich fehlenden Atmosphäre.
An dieser Stelle sei aber nichts dazu verraten, und ich würde auch vorschlagen, so wenig wie möglich zum Inhalt des Romans zu lesen, da sonst der ganze Spaß verlorengeht. Denn Spaß macht es tatsächlich, hinter das Geheimnis des Hauses und des Anderen zu kommen, auch wenn das Buch – natürlich – nicht an Clarkes Opus Magnum heranreicht.
„Weißt du, das Labyrinth spielt dem Verstand Streiche. Man vergisst Sachen. Wenn man nicht aufpasst, kann es einem die ganze Persönlichkeit zerpflücken.“
Piranesi ist zwar ein dünner Roman, dennoch voller literarischer und künstlerischer Anspielungen. Piranesi selbst leiht sich seinen Namen von dem italienischen Architekten und Künstler Giovanni Battista Piranesi, welcher im 18. Jahrhundert die Eisenradierungen „Carceri d’invenzione“ (Imaginäre Gefängnisse) produzierte. Darauf zu sehen waren riesige Räume und labyrinthische Strukturen – also genau wie Das Haus im Roman.
Ebenso gibt es einige Referenzen zu C.S. Lewis‘ Die Chroniken von Narnia, wie der Traum von einem Faun, der mit einem Mädchen spricht, sowie ein bestimmter Name, der in beiden Büchern auftaucht. Auch kann Das Haus als eine Anlehnung an den Wald zwischen den Welten gesehen werden, genauso wie an Jorge Luis Borges Labyrinthe aus seinen verschiedenen Erzählungen.
Susanna Clarkes neuer Roman Piranesi ist gute Unterhaltung. Das Ausgangsszenario ist interessant und besonders und macht einen neugierig genug, um die ganzen Rätsel des Buchs aufdecken zu wollen. Was inhaltlich funktioniert hat, hat mir persönlich aber an Atmosphäre gefehlt. Gerade Leser, die Clarkes dicken Fantasy-Wälzer Jonathan Strange & Mr. Norrell noch nicht kennen, werden vermutlich viel Freude an Piranesi habe – alle anderen sollten ihre Erwartungen besser ordentlich zurückschrauben.
Ich finde es wirklich beeindruckend wie Susanna Clarke einfach mal ihren kompletten Schreibstil umgeworfen hat: totaler Perspektivwechsel, viel weniger Ironie, alles total reduziert… für mich hat’s trotzdem geklappt. Klar, bei weitem nicht so gut wie Strange & Norrell, aber durchaus lesenswert.
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Das stimmt allerdings, viele Autor*innen bleiben ihrem Stil ja ewig treu, ohne etwas neues zu wagen. Ist dann wohl nur Glückssache, ob es den Lesern gefällt, wenn man sich diesbezüglich in andere Gefilde wagt. ;) Ich bin aber zuversichtlich, dass den wenigsten Lesern „Piranesi“ gar nicht gefallen wird, immerhin versteht die Dame ja etwas von ihrem Handwerk. :)
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Ahoi!
Ich habe lange mit mir gehadert, wie ich Piranesi denn nun finden soll – Strange & Norell habe ich nicht gelesen, sodass ich da völlig offen ran bin. Die Beschreibungen, dieses Tiefgründige, das alle gefiel mir und doch fehlte mir irgendwas… Aber interessant, dass ihr anderer Roman vom Stil her wohl so verschieden ist ^^
Wenn du magst, hier meine Rezension :)
Liebe Grüße
Ronja von oceanloveR
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[…] begeistert von dem Roman war unter anderem Miss Booleana, während man bei Let Us Read Some Books die hohen Erwartungen an die Autorin von Jonathan Strange & Mr. Norrell etwas enttäuscht […]
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[…] auflösen konnte. Ausführliche Besprechungen zum Roman gibt es unter anderem bei Bingereader, letusreadsomebooks und […]
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