Walter Moers – Wilde Reise durch die Nacht

Walter Moers Wilde Reise durch die Nacht Rezension

Walter Moers nimmt seine Leser mit auf eine Wilde Reise durch die Nacht: auf knapp 200 Seiten spinnt er eine rasante und wahnwitzige Geschichte um die Holzschnitte Gustave Dorés.

Der zwöfljährige Gustave gerät mit seiner Crew der Aventure auf dem Ozean zwischen zwei gefährliche siamesische Zwillingstornados und stirbt. Zumindest fast. Denn plötzlich steht der Tod höchstpersönlich an Deck, im Schlepptau seine verrückte Schwester Dementia, und bietet Gustave einen mehr oder weniger fairen Deal an: er soll sechs Aufgaben lösen, um seine Seele und sein Leben zu retten. Und so macht sich der Junge auf, sein Abenteuer zu bestreiten, das ihn innerhalb einer Nacht auf die Insel der gepeinigten Jungfrauen, quer durch das Universum und die Zeit bis schließlich auf den Mond führen soll, wo der Tod und Dementia ihn in ihrem Haus am Mare Tranquillitatis erwarten.

„Das Leben, mein Junge, ist nicht nur eine wilde, schöne Reise. Leben heißt auch: dem Tod bei der Arbeit zuzusehen. Das ist das Härteste überhaupt! Das muss man aushalten können. Bist du bereit, das auszuhalten, mein Junge?“

Moers kurzer Roman ist nach Die 13 ½ Leben des Käpt’n Blaubär und Ensel und Krete der dritte des Kultschriftstellers und der bisher einzige, der nicht in der Welt Zamoniens spielt. Er wurde auch nicht von Moers selbst illustriert, sondern ist mit Reproduktionen von 21 Bildern des französischen Künstlers Gustave Doré ausgestattet. Doch nicht die Bilder ergänzen die Geschichte, sondern andersherum: Moers hat sein wildes Abenteuer, dessen Held niemand anderes ist als der junge Gustave Doré selbst, um die Holzschnitte aus dem 19. Jahrhundert gespinnt. Dorés Bilder zeigen unter anderem Szenen aus der Bibel, aus Cervantes Don Quichote, Dantes Inferno, Poes The Raven und Miltons Paradise Lost.

Scheinbar lässig und mühelos bewegt sich Moers mit dieser Geschichte zwischen gewohnt unendlichem Einfallsreichtum, zahlreichen literarischen Anspielungen, philosophischen Fragen, Pathos, Satire und dem Sinn des Lebens. Gustaves treuer Begleiter in der Nacht ist Pancho Sansa, ein sprechendes Pferd, angelehnt an Sancho Panza, den Knappen des Don Quichote. Der einäugige Steuermann des Schiffs Aventure heißt Dante, die Zeit ist ein fliegendes Schwein im Weltall, die Monster streiten sich darum, wer das schrecklichste aller Ungeheuer ist. Amazonenhafte, nackte „Jungfrauen“ werden angeblich von Drachen belagert, verarbeiten die armen Tiere dann aber hinterhältig in ihrer Fabrik zu Sonnenschutz. Und dann sind da noch die holde Maid, die Gustave das Herz bricht und die sechs Riesen-Wissenschaftler, die ihn umbringen wollen, um ihm die Scham zu ersparen, als nutzloser Künstler leben zu müssen.

Rezension Walter Moers Wilde Reise durch die Nacht

Moers Geschichte passt einhundertprozentig zu den Illustrationen, die ihr als Vorlage dienen. Spielerisch und actionreich rollt das Abenteuer voran, das Gustave an so viele merkwürdige Orte und zu so vielen phantasievoll erdachten Wesen führt. Mit Witz, Charme und Biss wird Gustaves Kampf um sein Leben geschildert, obwohl teilweise auch sehr ernste Töne angeschlagen werden. Auch wenn die meisten von Moers‘ Romanen für Leser jeden Alters geeignet sind, ist dieses Buch deutlich düsterer und brutaler – einige Szenen erinnern eher an Game of Thrones, trotz des Humors und der Absurditäten.

„Je nachdem, auf welche Art du stirbst, siehst du eins von den letzten Tieren. Die letzten Schmetterlinge sind für Leute, die verbrennen. Die letzten Kolibris sind für Herzinfarkte. Das ist der reinste Todeszoo hier. Je weniger qualvoll die Todesart, desto weniger attraktiv die Tiere. Wenn du friedlich an Altersschwäche stirbst, siehst du nur ein Huhn. Das letzte Huhn. Es gackert, und du bist hinüber.“

Moers bricht in diesem Roman mit den Erwartungen seiner Leser. Märchen und Abenteuergeschichte kann man Wilde Reise durch die Nacht zwar schon nennen, gleichzeitig ist es aber auch eine Parodie auf ebenjene, ein herrlich abgedrehter Faustischer Pakt mit klassischen Motiven, die völlig verdreht werden, und vielen wundervollen literarischen Querverweisen, sodass die Frankfurter Allgemeine Zeitung 2001 nicht umher kam, das Buch mit Italo Calvinos Meisterstück Wenn ein Reisender in einer Winternacht zu vergleichen.

Walter Moers 2001 erschienener Roman Wilde Reise durch die Nacht ist genau das: ein wildes, kurzes Vergnügen, das seine Leser vollkommen mitreißt. Humorvoll, böse aber auch stellenweise durchaus ernst erzählt der Autor vom höchst unwahrscheinlichen Leben des realen Künstlers Gustave Doré – es ist eine wundervolle Hommage an ebendiesen, an das Fabulieren und an die Phantasie; rasant, packend und völlig absurd bis zur allerletzten Seite.

6 Kommentare

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  1. Flo

    Das steht gefühlt schon seit Jahren auf meiner „muss ich mal wieder lesen“-Liste. Die Idee, das alles um die Illustrationen herum aufzubauen, fand ich super spannend. Ich hab mir sogar extra gebraucht die gebundene Ausgabe geholt (erstaunlich billig zu haben), weil da die Illustrationen größer sind und besser rüberkommen.

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    • letusreadsomebooks

      So lange schon? Dabei ist das doch an zwei Sonntagen oder so ähnlich geschafft! ;)
      Ich hatte ehrlich gesagt bisher noch gar nichts von dem Buch gehört, auch auf der Zamonien-Webseite hatte ich es immer übersehen und dann – glücklicherweise – durch Zufall in der Buchhandlung entdeckt. :)

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  2. Rückblick: Lesemonat Februar – Letusredsomebooks

    […] Der zwölfjährige Gustave stirbt eines Nachts, als sein Schiff in einen gefährlichen siamesischen Zwillingstornado gerät. Doch vielleicht kann er dem Tod ein Schnippchen schlagen: wenn Gustave sechs Aufgaben bis zum Ende der Nacht erfüllt, darf er weiterleben. Walter Moers einziger Roman, der nicht in Zamonien spielt, spinnt eine abenteuerliche und phantasievolle Geschichte rund um 21 Holzschnitte des französischen Künstlers Gustave Doré, die unter anderem Szenen aus John Miltons Paradise Lost, Dantes Inferno und Edgar Allan Poes The Raven abbilden. Einfallsreich, humorvoll und voller literarischer Querverweise ist Wilde Reise durch die Nacht nicht nur eine wundervolle Hommage an Gustave Doré, sondern auch an das Erzählen und die Phantasie selbst. Lest hier unsere Besprechung. […]

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