Jon Krakauer – In die Wildnis

Jon Krakauer In die wildnis Rezension

Der (ewige) Traum der unberührten Wildnis und das Drama eines jungen Mannes. Jon Krakauers Reportage In die Wildnis.

Was veranlasst einen jungen Mann im Jahr 1990 dazu, kurz nach seinem Abschluss alles aufzugeben und zu verschwinden? Er nimmt einen neuen Namen an, spendet seine gesamten Ersparnisse einer gemeinnützigen Organisation, setzt sich ins Auto und fährt los. Immer Richtung Westen. Auf dem Weg lässt er seinen Wagen stehen, verbrennt auch noch das letzte Geld und trampt fortan. Sein Ziel: das Leben für sich neu erfinden. Seine Familie weiß nicht, was aus ihm geworden ist und wo er sich befindet. Knapp zwei Jahre später wird die Leiche des Jungen in Alaska, allein in einem Bus, in der Wildnis nördlich des Mount McKinley gefunden.

Bei dieser wahren Geschichte handelt es sich um Christopher Johnson McCandless, der in einem reichen Vorort in Washington D.C aufgewachsen war und sowohl in der Schule als auch an der Uni immer zu den Besten gehörte. Bis er sich dazu entschied, sein bisheriges Leben hinter sich zu lassen und ein neues zu beginnen. Jon Krakauer, der 1993 für die Zeitschrift Outside einen Artikel über McCandless geschrieben hatte, entschied sich dazu, den Spuren nachzugehen und folgte über ein Jahr McCandless‘ Wanderschaft bis nach Alaska, wo er schließlich verhungerte. Im Vorwort schreibt Krakauer explizit, dass er alles andere als ein unvoreingenommener Beobachter sei, das Schicksal des Jungen ginge ihm zu nahe – zumal er einige Ähnlichkeiten mit sich selbst entdeckte.

Er wollte leben, und zwar so intensiv wie irgend möglich, und er wußte auch, wofür. Aber was er dem Leben an Sinn abgerungen hatte, war nicht auf dem Weg des geringsten Widerstands zu erreichen: Alles, was zu einfach war, war McCandless von vornherein suspekt. Er verlangte sich sehr viel ab – mehr als er am Ende in der Lage war, zu geben.

Um sich dem Leben und der Wanderschaft von McCandless zu nähern, befragte Krakauer die Familie des Jungen, aber vor allem Menschen, denen er während seiner Reisen begegnet war. Er wird meistens als freundlicher, intelligenter und fleißiger junger Mann beschrieben, der auch die härtesten Arbeiten erledigte. Dabei aber immer auf der Suche nach einem höheren Sinn war. Doch bereits vor seinem Abschluss gab es eigentlich deutliche Anzeichen dafür, dass McCandless sich verändert hatte. Nach seiner ersten langen Reise wächst sein Zorn auf die Eltern, dessen Geheimnis er nun kennt, vor allem der Vater verliert stark an Einfluss. Beeindruckt von den Werken Leo Tolstois beginnt er am College dessen Asketentum nachzuahmen und versuchte sich in ethischen Fragen an seine strengen Grundsätze zu halten. Ein starker Idealismus, der sich in der Realität kaum umsetzen ließ. Seine Eltern hielt er auf Distanz, so dass sie von den Veränderungen nur wenig mitbekamen und vor dem wenigen, was sie sahen, die Augen verschlossen. Neben Tolstoi spielte vor allem Henry David Thoreau eine prägende Rolle für das Denken von McCandless und seinen Traum von einer unberührten Natur. Von Jack London stammt schließlich die starke Faszination für Alaska, wo er sein letztes großes Abenteuer alleine in der Wildnis erleben will.

Das eigentlich Wichtige sind die Erfahrungen, die man macht, die Erinnerungen und die triumphale, überschäumende Freude, die einen durchströmt, wenn man das Leben in vollen Zügen genießt. Gott, das Leben ist so schön! Vielen, vielen Dank.

Solche Tagebucheinträge helfen dabei, als Leser McCandless und seinen Willen, ein anderes Leben zu finden, zu verstehen. Krakauer streut in seine Berichte an einigen Stellen eigene Erfahrungen ein, die er bei seinen Erlebnissen in Alaska gemacht hat. Doch die stärksten Momente sind die Aussagen von denjenigen, die McCandless begegnet sind und ihn einen Teil seines Weges begleitet haben. Voller Wehmut erinnern sie sich an den Jungen, der bei ihnen gearbeitet, gelebt und dessen Anwesenheit auch ihr eigenes Leben verändert hat. So erscheint es eigentlich widersprüchlich, dass er von vielen als gesprächig, ja fast schon geschwätzig beschrieben wird.

„Er hat viel gelesen und manchmal richtig philosophisch geredet. Ich schätz, das hat ihm am Ende auch das Genick gebrochen, daß er zuviel nachgedacht hat. Er mußte immer nach dem Sinn fragen, hat unbedingt wissen wollen, warum die Welt so ist, wie sie ist, warum die die Leute oft so gemein zueinander sind; […] Aber so war er halt. Er mußte immer haargenau wissen, ob das richtig ist, was er da gerade macht, sonst hat er gar nicht erst angefangen.“

Trotz all der Gespräche und den Tagebüchern bleibt immer das Gefühl, dass McCandless irgendwie nicht richtig zu greifen ist. Als sei er immer schon einen Schritt weiter. Der Autor scheint sich dessen bewusst zu sein. Die starke Widersprüchlichkeit in McCandless Charakter bleibt so ungelöst. Krakauer schreibt als Journalist präzise über dieses kurze Leben, mal emotional und dann wieder vor allem deskriptiv und nüchtern. Er lässt die Tagebücher und die Aussagen der Familie sowie der Weggefährten für sich stehen und hält sich dabei angenehm zurück. Trotz allem ist seine Faszination für McCandless jederzeit spürbar. Dabei zeigt er aber trotzdem dessen große Naivität, die Fehler und den übertriebenen Idealismus auf.

Jon Krakauer gelingt es in In die Wildnis sich einem kaum greifbaren jungen Mann anzunähern, der ein neues Leben in der Natur sucht. Dank der vielen Interviews und Tagebücher lässt sich sein Weg durch die USA bis nach Alaska nachverfolgen. Trotz der großen Faszination, die McCandless auf ihn ausübt, idealisiert Krakauer ihn nicht, sondern weist in aller Deutlichkeit auf seine Fehler und vor allem seine Naivität hin. Eine außergewöhnliche Reportage über einen außergewöhnlichen Menschen.

Bei einem Blick auf die Umstände seines Todes offenbart sich die Tragik um McCandless‘ vielleicht unnötigen Tod. Aufgrund seines wohl mangelhaften Kartenmaterials wusste er nicht, dass sich nur 30 Kilometer entfernt ein Highway befand (so viel auch zur unberührten Wildnis). Ein Park Ranger berichtet von dem mittlerweile so bezeichneten McCandless-Phänomen, das vor allem junge Männer meint, die sich nach Alaska begeben, um gegen die Wildnis zu kämpfen, dabei aber aufgrund von schlechter Ausrüstung und mangelhafter Vorbereitung leichtfertig ihr Leben aufs Spiel setzen.

Die Geschichte von McCandless wurde 2007 von Sean Penn mit Emile Hirsch in der Hauptrolle verfilmt. Dem Film kann man allerdings unterstellen, dass er zu sehr wie ein romantisierender Roadmovie wirkt, bei dem die kritischen Fragen auf der Strecke bleiben. Die Gesellschaftskritik und eher unangenehmen Aspekte, die im Buch immer wieder angeschnitten und diskutiert werden, spielen hier leider eher eine untergeordnete Rolle.

4 Kommentare

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    • letusreadsomebooks

      An sich gefällt mir die Verfilmung auch gut, auch wenn ich gerade im Gegensatz zum Buch ein paar Punkte etwas kritischer sehe. Das Buch liefert noch deutlich mehr Einblicke in das, was McCandles angetrieben hat, soweit es zu rekonstruieren ist.
      Viele Grüße!

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  1. Jasper

    Sehr gutes Buch, das wirklich nachdenklich macht. Ich habe das Buch in der Schule gelesen und war und bin beeindruckt, sowohl von der detaillierten und beinahe exakten Aufarbeitung der Fakten durch den Autor (der ja sogar die Schauplätze besucht hat), als auch vom tragischen, dramatischen Schicksal der Hauptfigur. Dabei wird McCandles im Buch auch besser als das was er ist dargestellt: als ein von selbstzweifeln geprägter Charakter, mit philosophischen Gedanken. Im Film hat man es zeitweise eher mit einem verirrten Touristen zu tun – ich will aber nicht sagen, dass der Film schlecht ist. Insgesamt kann ich das Buch also auch wirklich empfehlen!

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  2. Monatsrückblick: Unsere Bücher im Juli – Letusredsomebooks

    […] Der Journalist Jon Krakauer versucht in seiner Reportage In die Wildnis das Leben von Christopher McCandless nachzuvollziehen. Der junge Mann verließ seine Eltern und lebte fortan als Tramper und in der Natur, ohne das seine Familie wusste wo er sich befand und ob er überhaupt noch lebt. Mithilfe von Zeugenaussagen rekonstruiert Krakauer dessen Reise durch den Westen der USA und nach Alaska, wo McCandless schließlich allein verhungerte. Ein bewegendes und nachdenklich machendes Porträt eines Mannes, der in der Wildnis die Freiheit und das wahre Leben suchte. Unsere ausführliche Besprechung findet ihr hier. […]

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