Julian Barnes – Vom Ende einer Geschichte

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Julian Barnes preisgekrönter Roman Vom Ende einer Geschichte über das fragile Konstrukt der eigenen Identität und Erinnerung.

Als Finn Adrian in die Klasse von Tony Webster kommt, werden die beiden Jungen schnell Freunde. Bücher, Philosophie und Sex sind die wichtigsten Themen, dabei hat Tony immer den Eindruck, dass Adrian in allem klüger ist als er selbst. Der Kontakt hält auch nach der Schulzeit. Doch dann hat die Freundschaft ein plötzliches Ende. Vierzig Jahre später, Tony hat mittlerweile eine Trennung und Karriere hinter sich und ist mit sich im Reinen, erhält er den Brief eines Anwalts und eine Erbschaft, die den Glauben an seine Erinnerung und seine Biographie erschüttern.

Wie sicher kann sich der Mensch sein, dass die eigene Erinnerung auch dem entspricht, was in der Vergangenheit passiert ist? Eine Frage, der sich auch der Ich-Erzähler in Julian Barnes Roman Vom Ende einer Geschichte stellen muss. Das Buch ist in zwei Teile geteilt. Im ersten Abschnitt berichtet Tony von seiner Jugend und den darauffolgenden Jahren. Wie Adrian in ihre Klasse kam und zum Teil einer Gruppe wurde, zu der auch seine zwei anderen Freunde, Alex und Colin gehörten. Er berichtet von besonderen Antworten, die der intelligente Adrian im Geschichtsunterricht gab, sowie von dem Selbstmord eines Mitschülers. Nach der Schule gehen die Vier unterschiedliche Wege. Adrian studiert in Cambridge, während Tony zum Studium nach Bristol geht und dort Veronica kennenlernt. Nachdem die Beziehung scheitert, werden Veronica und Adrian ein Paar, was zum Bruch mit Tony führt. Nach einem Aufenthalt in Amerika erfährt Tony, dass Adrian Selbstmord begangen hat. Vierzig Jahre später soll Tony das Tagebuch seines Freundes erben, das Veronica ihm aber nicht aushändigen will.

Wir leben in der Zeit – sie trägt und sie prägt uns -, aber ich hatte immer das Gefühl, sie nicht recht zu verstehen. Und damit meine ich nicht die Theorien, dass sie bisweilen kehrtmacht und rückwärts läuft oder womöglich anderswo in einer Parallelausgabe existiert. Nein, ich meine die ganz gewöhnliche, alltägliche Zeit, die, wie uns sämtliche Uhren versichern, regelmäßig vergeht: tick-tack, klick-klack. Was ist glaubwürdiger als ein Sekundenzeiger?

Zu Beginn des zweiten Teils erhält Tony den Brief eines Anwalts, der die Sicherheit seines Lebens nach und nach in Frage stellt. Bis dahin präsentiert sich Tony durchaus als sympathischer, eher durchschnittlicher Typ, der nach seiner Scheidung weiterhin eine freundschaftliche Beziehung zu seiner Ex-Frau führt und auch ein gutes Verhältnis zu Tochter und Enkeln hat. Durchaus ein Mensch, dem bewusst ist, dass er Fehler gemacht hat, aber keine allzu bedenklichen. Er ist zufrieden mit seinem Leben und fest davon überzeugt, dass seine Erinnerungen an die Vergangenheit korrekt sind. Der Brief bringt diese Überzeugungen ins Wanken, was dazu führt, dass sich Tony fragt, ob er wirklich ein guter Mensch war.

Julian Barnes, der für Vom Ende einer Geschichte den Booker Prize erhielt, braucht nur knapp 180 Seiten um zu zeigen, wie fragil die Vorstellung der eigenen Identität sein kann. Barnes lässt Tony immer mehr Risse in seiner Erinnerung erkennen. Ein Mann, der eigentlich nie etwas Besonderes war, selbst sagt, sich mit dem Durchschnitt abgefunden zu haben, aber dennoch zufrieden ist. Sowohl mit sich als auch dem Leben, das er geführt hat. Doch wie kann er damit umgehen, dass diese Vorstellung nicht zu halten ist? Als Leser glaubt man zu erahnen, was er getan hat, doch ist die Enthüllung am Schluss dann doch anders und heftiger, als zunächst befürchtet.

Wie oft erzählen wir unsere eigene Lebensgeschichte? Wie oft rücken wir sie zurecht, schmücken sie aus, nehmen verstohlene Schnitte vor? Und je länger das Leben andauert, desto weniger Menschen gibt es, die unsere Darstellung infrage stellen, uns daran erinnern können, dass unser Leben nicht unser Leben ist, sondern nur die Geschichte, die wir über unser Leben erzählt haben. Anderen, aber – vor allem – uns selbst erzählt haben.

In einem schlichten Stil, manchmal auch von komischen Bemerkungen und Einschüben unterbrochen, berichtet Tony als unglaubwürdige Erzähler, der sich selbst als Opfer stilisiert und für sein Handeln keine Verantwortung übernimmt. Es ist fast schon tragisch zu beobachten, wie er immer tiefer in der Vergangenheit bohrt, sozusagen gegen sich selbst ermittelt, ohne es wirklich zu bemerken, bis es ihm dann doch klar wird. Tony, aber auch seinen Freunden, fehlt wirkliche Empathie. Als sich während der Schulzeit ein Mitschüler erhängt, weil er seine Freundin geschwängert hat, sind sie damit beschäftigt, den Tod als „unkünstlerisch“ zu bewerten. Die Ursachen für den Selbstmord, die auch in gesellschaftlichen Konventionen begründet liegen, sehen sie überhaupt nicht. Diese mangelnde Empathie zieht sich durch die gesamte Erzählung von Tony, der sich gerne als Außenseiter sieht, was vor allem seine Beziehung zu Veronica prägt, der er unterstellt, aufgrund ihrer gesellschaftlichen Stellung nicht mit ihm schlafen zu wollen.

Obwohl das Buch kurz ist, gelingt es Barnes, das Innenleben von Tony eindrücklich mit all seinen Facetten und Rechtfertigungen darzustellen. So entsteht das Porträt eines Mannes, der glaubt, moralisch richtig gehandelt zu haben und mit sich im Alter zufrieden ist. Zweifel an diesem Selbstbild schimmern aber von Beginn an durch. Die Ausführungen über die Konstruktion der eigenen Identität und Lebensgeschichte gehen in die philosophische Richtung und auch die moralischen Deutungen zeugen von einer gedanklichen Tiefe. Als Historiker sieht Tony gelassen herab auf den Strom der Zeit, den er distanziert betrachtet. Ein immer wiederkehrendes Motiv des Romans ist ein „widersinnig stromaufwärts brausender Fluss“, welcher der Erinnerung von Tony an eine Nacht entspringt. So kehrt auch die Erinnerung an bewusst verdränge Gegebenheiten wider zu Tony zurück.

Ich habe viel erlebt und viel überstanden. „Wer viel erlebt kann viel erzählen“ – so heißt es doch nicht wahr? Geschichte ist nicht die Summe der Lügen der Sieger, wie ich Old Joe Hunt eins nassforsch versichert hatte; das weiß ich jetzt. Sie ist eher die Summe der Erinnerungen derer, die viel erlebt und viel überstanden haben und meistens weder Sieger noch Besiegte sind.

Vom Ende einer Geschichte ist ein kleines Meisterwerk, das sowohl mit seiner Thematik, den moralischen und philosophischen Einschüben, sowie mit dem detaillierten Innenleben seines Ich-Erzählers den Leser in seinen Bann zieht. Gleichzeitig erzeugt die Suche nach der wirklichen Vergangenheit eine große Spannung. Für mich einer der besten Roman der letzten Jahre.

 

10 Kommentare

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  1. Sabine Olier

    Ich freue mich über die Erinnerung an diesen sehr bemerkenswerten Roman über das Erinnern und die daraus resultierende Vorstellung von sich selbst. Mich hat die Geschichte ebenfalls sehr beeindruckt und ich werde das Buch ein zweites Mal lesen.
    Vielen Dank!

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  2. Monatsrückblick: Unsere Bücher im Juni – Letusredsomebooks

    […] Als Finn Adrian in die Klasse von Tony Webster kommt, entwickelt sich eine Freundschaft, die jäh zerbricht, als während des Studiums Adrian mit der Ex-Freundin von Tony zusammenkommt. Im Alter erhält Tony einen Brief, der seinen Glauben an die eigene Biographie erschüttert. Wie sicher kann sich ein Mensch der eigenen Erinnerung sein? Das ist die zentrale Frage, die Julian Barnes aufwirft und der er sich auf philosophische und moralische Art nähert. Die inhaltliche Spannung bleibt mit der Suche nach der Wahrheit durchgehend ebenso erhalten. Insgesamt ein kleines Meisterwerk von knapp 160 Seiten. […]

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  3. Michael Kleu

    Das Buch hat mir auch hervorragend gefallen. Einerseits einfach so, weil es ein großartiger Roman ist, andererseits aber auch, weil es Probleme der Geschichtswissenschaft so schön auf den Punkt bringt, die ja letztlich zu einem guten Teil von menschlichen Erinnerungen abhängt.

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  4. Julian Barnes – The Only Story / Die einzige Geschichte – Letusredsomebooks

    […] An einer Stelle im Roman fallen die Sätze: „Most of us have only one story to tell. I don’t mean that only one thing happens to us in our lives: there are countless events, which we turn into countless stories. But there’s only one that matters, only one finally worth telling.” Um diesen Punkt kreist auch Paul immer wieder. Seine erste Liebe, die Geschichte, die er sich immer wieder erzählt und aus allen möglichen Perspektiven betrachtet, ist die Geschichte und das bestimmende Ereignis in seinem Leben, das ihn zu dem Mann gemacht hat, der er nun ist. Der Mann, der sich so viele Gedanken über die Liebe macht. Dieser Rückblick auf die prägenden Momente im Leben und die Art darüber zu sprechen, nachzudenken, zu reflektieren und die Ereignisse darzustellen, ist sicherlich ein Element, das an einen anderen Roman des Autors anknüpft: Vom Ende einer Geschichte. […]

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