George Saunders – Lincoln im Bardo

Rezension George Saunders Lincoln im Bardo Roman

Auf einzigartige Weise verbindet George Saunders in seinem Roman Lincoln im Bardo Fiktion mit Historie und wurde dafür mit dem Man Booker Prize belohnt.

Im Alter von elf Jahren stirbt Willie Lincoln, der Sohn des Präsidenten, während des Bürgerkriegs. Der trauernde Vater sucht alleine das Grabmal auf, um den Sohn noch einmal in den Armen zu halten. In der Nacht werden die Gespenster wach, die Geister der Toten. Willie befindet sich in einem Zwischenreich, in der tibetischen Tradition als Bardo bezeichnet, und um die Seele des Verstorbenen entbrennt ein Streit.

George Saunders, bis vor kurzem vor allem für seine Kurzgeschichten bekannt, hat gleich für seinen ersten Roman Lincoln im Bardo den Man Booker Prize erhalten. Es ist ein vielstimmiges und phantasievolles Buch, sowie eine traurige Vater-Sohn Geschichte, die sich größtenteils in einer Geisterwelt abspielt. Doch Willie ist nicht alleine im Bardo. Da ist noch der Drucker Hans Vollman, der, bevor er die Ehe mit einer deutlich jüngeren Frau vollziehen konnte, von einem Balken erschlagen wurde und auch als Geist immer noch die Sehnsucht nach seiner Braut verspürt. Vollmans bester (Geister)Freund ist Roger Bevins III., der aufgrund von Schamgefühlen Selbstmord beging. Gemeinsam mit anderen Gespenstern werden sie Zeuge von Willies Ankunft und vom Besuch seines Vaters. Sie beobachten, wie der Präsident die Leiche seines Sohnes in den Armen hält und das Versprechen abgibt, zurückzukehren. Willie will daher auf den Vater warten, doch ist die Geisterwelt ein gefährlicher Ort, weshalb Vollman und Bevins Präsident Lincoln folgen, um ihn zu einer sofortigen Rückkehr zu bewegen.

Alles vorbei jetzt.
Entweder ist er in der Freude oder im Nichts.
(Warum also trauern?
Für ihn ist das Schlimmste überstanden.)
Weil ich ihn so liebte und daran gewöhnt bin, ihn zu lieben, und diese Liebe muss sich jetzt in Gestalt von Jammern und Sorge und geschäftigem Tun zeigen. 
Nur dass nichts mehr zu tun ist.
Muss mich von dieser Dunkelheit befreien, so gut ich kann, nützlich bleiben, nicht wahnsinnig werden.
An ihn denken, wenn ich es tue, als wäre er an einem hellen Ort, fei von allem Leid, in einer neuen Daseinsform erstrahlend.

So dachte der Herr.

Getragen wird der Roman vor allem von den Stimmen von Vollman, Bevins und einem Reverend Thomas, der sich ebenfalls im Zwischenreich aufhält. Sie reden wild durcheinander, ermahnen sich gegenseitig, stacheln sich auf und führen ihre ganze eigene Freundschaft. Neben den dreien kommen noch weitere Geister zu Wort, insgesamt 160 Stimmen, die das Geschehen darstellen und kommentieren. Was neben der außergewöhnlichen und phantasievollen Geschichte sofort auffällt, sind die besonderen Erzählmittel, die Saunders wählt und die dem Roman einen besonderen Reiz verleihen. Daneben setzt der Autor in der Rahmenhandlung auf Zitate aus Büchern über Lincoln und auf historische Quellen, die er zusammenfügt und so die äußeren Umstände des Todes in einer Collage darstellt. Wer schon mal historische Quellen gelesen hat, wird sich nicht wundern, dass sich dort auch viele Widersprüche finden. Hier wird die subjektive Wahrnehmung offenbar, ebenso wie der Wunsch, Präsident Lincoln zu verstehen und zu erklären. Genau zeitgleich mit dem Tod von Willie treffen auch die Listen mit den Gefallenen des Krieges ein. Lincoln ist nicht der Einzige, der um eine geliebte Person trauern muss. Hier wird das persönliche Schicksal mit dem historischen Krieg verbunden und für Lincoln ist es unerträglich zu wissen, wie viele Söhne er getötet hat.

Im Kern eines jeden lag das Leid; unser sicheres Ende irgendwann und die vielen Verluste, die wir auf dem Weg dorthin ertragen mussten.

Die sehr gelungene und außergewöhnliche Erzählweise zeigt aber auch eine große Bandbreite an (historischen) Stimmen und bietet so tiefe Einblicke in das amerikanische Denken während der Sezessionskriege. Die Zitate zeigen die verschiedenen Meinungen, Ansichten und Gedanken. Alle werden übrigens mit genauer Quellenangabe zitiert. Hier kommen Sklaven, Sklavenhalter, Soldaten, Verbrecher, Arme und Reiche nebeneinander zu Wort. Die einen loben den Präsidenten für seine politische Haltung, die anderen verfluchen ihn und machen ihm Vorwürfe. Der Bruch, der sich durch die Gesellschaft zog und bis heute nachwirkt, ist nicht zu übersehen.

Sind die Collagen zu Beginn vielleicht etwas gewöhnungsbedürftig, machen sie mit der Zeit einen großen Reiz aus. Die Stimmung im Bardo schwankt zwischen Komik, Tragik und Trauer. Auf der einen Seite die teilweise derb und grotesk sprechenden Gespenster mit ihrem unnatürlichem Aussehen und Verhalten und auf der anderen Seite der gebrochene Präsident, der den toten Körper seines Sohnes in den Armen hält.

Man empfindet solche Liebe für die Kleinen, so viel Vorfreude darauf, dass sie alles Schöne im Leben kennenlernen werden, solche Zuneigung zu der Zusammenstellung all dessen, was jeden von ihnen typisch und einzigartig macht: einen ganz eigenen Wagemut, eine Verletzlichkeit, Angewohnheiten der Rede, Sprachfehler und derlei; der Geruch von Haaren und Kopf, das Gefühl der kleinen Hand in der eigenen – und dann ist der kleine weg! Fortgerissen!

Lincoln im Bardo besticht durch eine außergewöhnliche Erzählstruktur, in der sowohl das Private als auch das Öffentliche offenbar wird. Dazu kommt die zugleich komische und tragische Welt des Bardo, in dem sich Willie befindet. So funktioniert der Roman von Saunders auf mehreren Ebenen und ist eines meiner literarischen Highlights des Jahres.

18 Kommentare

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  1. letteratura

    Ich hatte sehr mit dem Roman zu kämpfen, bin aber letztlich froh, ihn gelesen zu haben. Ich finde ihn sehr ambitioniert und auch mutig, aber Saunders gelingt sein Vorhaben. Kein Herzensbuch für mich, aber den Booker Prize halte ich für verdient.

    Gefällt 1 Person

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