Haruki Murakami – Wilde Schafsjagd

Rezension Haruki Murakami - Wilde Schafsjagd

Wilde Schafsjagd ist Haruki Murakamis dritter Roman. Die vollkommen abgedrehte Suche nach einem ganz besonderen Schaf ist ein meisterhaft umgesetztes Werk des magischen Realismus – und eines von Murakamis besten Büchern.

„Du, in ungefähr zehn Minuten kommt ein wichtiger Anruf. Irgendwas mit Schafen“, sagte sie. „Viele Schafe und ein spezielles Schaf.“
„Schafe?“
„Ja“, sagte sie und gab mir ihre halbgerauchte Zigarette. Ich nahm einen Zug und drückte sie im Aschenbecher aus. „Und dann beginnt das Abenteuer.“

Dieses Zitat wäre vermutlich die beste Zusammenfassung, die man dem Roman geben kann.
Vor drei Jahren habe ich Murakamis Wilde Schafsjagd zum ersten Mal gelesen und schon da wusste ich: das ist eines von seinen besten Büchern. Als ich auf den zweiten Teil des Commendatore warten musste und Zeit zu überbrücken hatte, dachte ich, dass ich das Buch einfach noch mal lese. Und siehe da, an meiner Meinung hat sich immer noch nichts geändert. Für mich ist dieses kurze Büchlein einer der typischsten Murakamis und perfekt konstruiert – hier ist keine Szene zu viel oder zu wenig.

Die Story spielt zeitlich gesehen zwischen Wenn der Wind singt/Pinball 1973 und Tanz mit dem Schafsmann. Der Protagonist wurde von seiner Frau verlassen und ist nun allein mit seinem namenlosen Kater in der Wohnung. Die Arbeit in der Übersetzungs- und Werbeagentur, die er mit einem Freund leitet, läuft ganz gut, doch sein Partner trinkt seit einiger Zeit intensiv und ist deswegen auch nicht immer so zuverlässig wie damals. Eines Tages prophezeit seine ebenfalls namenlose Freundin (die in Tanz mit dem Schafsmann den Namen Kiki erhält) dem Protagonisten, er würde einen wichtigen Anruf erhalten – es ginge um ein Schaf. Kurze Zeit später findet er sich auf dem Anwesen eines alten, politisch wie wirtschaftlich einflussreichen Mannes wieder, der im Sterben liegt. Sein Sekretär erteilt ihm den Auftrag, nach einem ganz bestimmten Schaf zu suchen. Doch die Motive des Sekretärs und die Hintergründe des Schafes lüften sich erst nach und nach. Eine wirklich wilde Schafjagd beginnt und führt den Protagonisten und seine Freundin nach Hokkaido – wo alte Bekannte und neue Weggefährten auf sie warten.

Wer diese alten Bekannten und neuen Weggefährten sind, sei an dieser Stelle nicht verraten. Nur so viel: ich habe mich tierisch gefreut, sie hier anzutreffen. Der Roman startet recht gemächlich, doch mit Erteilen des Auftrags der Schafsuche gewinnt er schnell an Fahrt, bis sich gegen Ende die Ereignisse geradezu überschlagen. Mit seinen knapp 300 Seiten hat er genau die richtige Länge: nichts ist zu viel oder überflüssig, es wird niemals langatmig oder gar langweilig und am Ende denkt man sich: ich hätte zwar gerne mehr gelesen, aber so war es eigentlich perfekt. Für mich ist dieses Buch eines von Murakamis Glanzstücken, es ist ein „klassischer“ Murakami, ein entscheidender Roman des Autors.

„Körperzellen erneuern sich monatlich. Und deshalb“, sie hielt mir ihre schlanke Hand vor die Augen, „ist fast alles, was du von mir zu wissen glaubst, nichts als Erinnerung.“

In diesem Roman zeigt Murakami, was er am besten kann: einerseits diese alltäglichen Beschreibungen, durchzogen von feiner Melancholie und zartem Humor, andererseits diese völlig abgedrehten Charaktere, Dialoge und Ereignisse, die den Leser zwischen Lachen, Verwunderung und völliger Verzückung zurücklassen. Die Freundin des Protagonisten, ein Callgirl mit fast schon übersinnlichen Ohren, der Chauffeur des alten Mannes, der mit unserem Helden über die großen Fragen des Lebens philosophiert, der verschrobene Schafsprofessor, der im Hotel Delfin lebt, und nicht zuletzt der unglaublich seltsame Gast, der den Protagonisten gegen Ende des Romans immer mal wieder besuchen kommt – Murakami weiß, wie er seine Leser unterhalten, verwirren und in sein Universum einsaugen kann.

Das einfachste wäre gewesen, laut loszuheulen. Aber das ging auch nicht. Da lag, hatte ich das Gefühl, noch etwas vor mit, über das ich wirklich würde weinen müssen. Ich holte die Whiskeyflasche und ein Glas aus der Küche und goß mir fünf Zentimeter hoch ein. Außer Whiskey trinken fiel mir nichts ein.

Die Geschichte, die relativ harmlos beginnt und sich erst im Verlaufe des Buchs als völlig verrückte und surrealistische Story entpuppt, thematisiert murakamitypisch auf eine sehr unaufdringliche Art Beziehungen, Tod, Verlust und Einsamkeit. Den gewohnt austauschbaren Erzähler und Protagonisten scheint seine Vergangenheit fest im Griff zu haben. Erst die Suche nach dem Schaf zwingt ihn dazu, seine Augen zu öffnen und endlich in der Gegenwart zu leben – und wie!
Obwohl Murakami das Buch bereits 1982 im japanischen Original veröffentlichte und es 1991 erstmals auf Deutsch erschien, wirkt es keineswegs veraltet – im Gegenteil, es ist auch nach 36 Jahren beeindruckend aktuell und modern.

Haruki Murakamis Roman Wilde Schafsjagd ist rasant, wahnwitzig und unglaublich originell. Es ist ein kurzes Meisterwerk und zählt für mich nach all den Jahren des Murakami-Lesens immer noch zu seinen besten Büchern.

3 Kommentare

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  1. Monatsrückblick: Unsere Bücher im April – Letusredsomebooks

    […] In dem frühen Werk von Murakami erhält der gewohnt namenlose Protagonist einen mysteriösen Anruf und soll sich für einen sehr einflussreichen Mann auf die Suche nach einem ganz besonderen Schaf begeben. Diese Schafsjagd ist in der Tat ziemlich wild, verknüpft sie nämlich auch Murakamis Erstling Wenn der Wind singt/Pinball 1973 mit dem später folgenden Tanz mit dem Schafsmann. Es ist verrückt, es ist surreal, es tauchen viele abgedrehte aber extrem liebenswürdige Charaktere auf – was will man mehr?! Für mich nach wie vor eines von seinen besten Büchern, auch nach diesem Re-Read. Eine Besprechung findet ihr hier. […]

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