Mordgeschichte trifft griechische Tragödie: Donna Tartts bereits 1992 erschienener Roman Die geheime Geschichte entführt den Leser an ein College in Vermont, an dem sich eine Gruppe Griechischstudenten von der Schönheit des Schreckens leiten lässt. Düster, abgründig und doch von eigentümlicher Schönheit.
Ich nehme an, es gab eine Zeit in meinem Leben, da hätte ich eine beliebige Anzahl von Geschichten gewußt, aber jetzt gibt es keine andere mehr. Dies ist die einzige Geschichte, die ich je werde erzählen können.
Richard Papen studiert am College von Hampden in Vermont. Dort gibt es eine Gruppe von Studenten – Henry, Francis, Charles, Camilla und Bunny – die eine große Faszination auf den jungen Mann ausüben. So groß, dass er beschließt, ihnen näher zu kommen. Sie studieren Altgriechisch bei Julian Morrows, nein, eigentlich leben sie für die antiken Sprachen, Philosophien und Ideen. Als Richard das Fach wechselt und in ihren inneren Kreis aufgenommen wird, zeigt sich jedoch schnell, dass nicht alles so perfekt ist, wie es von außen schien. Die fünf Studenten haben alle ihre Abgründe und niemand von ihnen spielt mit offenen Karten…
„Sie erinnern sich an das, was wir vorhin besprachen – daß blutrünstige, schreckliche Dinge oft die schönsten sind?“ sagte er. „Es ist eine sehr griechische Idee, und eine sehr profunde dazu. Schönheit ist Schrecken. Was immer wir schön nennen, wir erzittern davor.“
Der Prolog von Donna Tartts Roman Die geheime Geschichte schleudert den Leser unverzüglich in das verschneite Vermont, wo vier Freunde gerade ihren Kumpel Bunny umgebracht haben. So schnell und krass der Einstieg auch ist, wird auf den nachfolgenden 100 oder 150 Seiten das Tempo noch einmal stark gedrosselt. Wir lernen Richard genauer kennen und begleiten ihn bei seinem Studienfachwechsel am College. Wir erfahren, wie es zu dem Mord kam, der schon im Prolog erwähnt wird, welche grausamen Taten noch vorher begangen wurden und wie es nach Bunnys Tod mit den Freunden weitergeht. Von Anfang bis Ende brodelt es unter der Oberfläche der Charaktere, man spürt die Spannungen und doch vermag man noch nicht alle genau einzuordnen.
Die Charaktere, denen wir begegnen, sind eigentlich alle keine Sympathieträger. Sie sind arrogant, versnobt, elitär und halten sich aufgrund ihres Studiengangs für etwas unglaublich Besonderes. Sie trinken zu viel, viel zu viel und der ein oder andere befindet sich in einer Abwärtsspirale, seinen Drogenkonsum betreffend. Einzig Camilla scheint ’normal‘ zu sein, sofern es in dieser Gruppe so etwas wie normal wirklich gibt. Sie ist still und mysteriös, sie hält sich meist zurück und hat weniger Eigenarten als ihre Freunde. Trotz ihrer Fehler gelingt es Tartt jedoch, dass man sich als Leser mit den Studenten identifizieren kann, dass man sie irgendwie sogar mag, obwohl sie alle ihre Fehler haben und im Grunde genommen eigentlich schlechte Menschen sind.
„Weil es gefährlich ist, die Existenz des Irrationalen zu ignorieren. Je kultivierter ein Mensch ist, je intelligenter, je beherrschter, desto nötiger braucht er eine Methode, die primitiven Impulse zu kanalisieren, an deren Abtötung er so hart arbeitet. Sonst werden diese machtvollen alten Kräfte sich sammeln und erstarken, bis sie mächtig genug sind, um hervorzubrechen […]“
Richard ist neben Camilla auch einer der weniger unsympathischen Charaktere. Er ist halt ein Mitläufer, man kann es nicht anders sagen. Er bewundert die anderen, er möchte so gerne zu ihnen gehören. Alles, was er tut, tut er bloß, um dazuzugehören und von den anderen akzeptiert zu werden. Er schwärmt auch ununterbrochen von Julian, seinem Lehrer, obwohl dieser auch nach und nach schlechtere Seiten von sich offenbart. Doch Julian, Henry, Bunny, Camilla, Charles und Francis scheinen einen Zauber auf Richard auszuüben, dem er sich einfach nicht widersetzen kann.
Richard lebt in einer Passivität, die dazu führt, dass er immer nur dahin treibt, wohin der Fluss fließt. Erstaunlicherweise ist es gar nicht anstrengend oder nervig, ihn als passive Figur zu begleiten, vielleicht auch, weil die Umstände so besonders sind, dass man sich selbst unweigerlich fragt: „Hätte ich wirklich anders gehandelt in dieser Situation? Wäre ich eingeschritten?“
Aber durch das alles hindurchzuspazieren war eine Sache; davonzuspazieren hat sich leider als eine völlig andere erwiesen, und obwohl ich mal dachte, ich hätte diese Schlucht an einem Aprilnachmittag vor langer Zeit für immer verlassen, bin ich da jetzt nicht mehr so sicher. Jetzt, wo die Suchtrupps weg sind und das Leben um mich herum wieder still geworden ist, weiß ich, daß ich mir vielleicht jahrelang eingebildet habe, woanders zu sein, daß ich aber in Wirklichkeit die ganze Zeit da war: oben am Rand der Schlucht, bei den schlammigen Wagenspuren im neuen Gras, wo der Himmel dunkel ist über den zitternden Apfelblüten und wo der erste Frosthauch des Schnees, der in der Nacht fallen wird, schon in der Luft hängt.
Bis zum Ende hin ist er unselbstständig, er trifft keine eigenen Entscheidungen, zumindest keine, die nicht von seinen sogenannten Freunden beeinflusst wurden. Dabei bleibt er immer ein wenig außerhalb der Gruppe. Auch wenn sie ihn in Geheimnisse einweihen und er viel Zeit mit ihnen verbringt, gibt es ständig Dinge, die sie Richard verschweigen oder nur teils erzählen, niemals ist er vollständig eingeweiht. Da Richard als personaler Erzähler auftritt, weiß der Leser also auch immer nur das, was Richard weiß und so wird nach und nach mehr von der geheimen Geschichte aufgedeckt.
Mit ihrer wundervollen Sprache kreiert Donna Tartt eine äußerst dichte Atmosphäre – der Schnee und die Kälte Vermonts, die Sorgen der Freunde und die auf ihrer Freundschaft lastenden dunklen Geheimnisse sind deutlich zu spüren. Zwischendurch streut sie immer wieder griechische, lateinische oder französische Zitate, die jedoch nicht übersetzt werden – man muss also selbst zu Google und co. greifen, wenn man alles verstehen möchte. Dafür wirken diese Zitate unglaublich authentisch. Wenn Henry Richard geheime Dinge vor anderen Nichtwissenden auf Griechisch anvertraut, kommen seine Verschrobenheit und seine Leidenschaft für die alten Sprachen wunderbar zum Vorschein.
„Alles ging wunderbar und ich hatte ein Gefühl, das ich noch nie gehabt hatte: daß die Wirklichkeit selbst sich um uns herum auf eine schöne und gefährliche Weise veränderte, daß wir von einer Macht vorangetrieben wurden, die wir nicht verstanden, auf ein Ziel zu, das wir nicht kannten.“
Ebenfalls gelungen sind die Parallelen zu den antiken griechischen Philosophen. Die geheime Geschichte ist aufgeteilt in Buch I und Buch II, das Schicksal bzw. der Zufall spielen eine tragende Rolle und die Handlung erinnert stark an eine griechische Tragödie – die Textstruktur inklusive Prolog, der eigentlich „gute“ Charakter des Richard, der aber durch falsche Einschätzungen zu tragischen Handlungen verleitet wird, die klassische Einteilung in fünf Akte nach Aristoteles und Horaz. Hinzu kommt die Tatsache, dass die Tragödie aus Chorgesängen des Dionysos-Kultes entstanden ist, ein Kult, der in diesem Roman für die gesamte Handlung von enormer Wichtigkeit ist.
Auch wenn von Anfang an klar ist, dass Bunny sterben wird, bleibt der Roman durchgehend spannend, denn die sechs Freunde hüten mehr als nur ein Geheimnis. Durch die Sprache und das Setting – der Campus eines Elitecolleges in Vermont, ein alter Landsitz an einem See und die stets über allem thronenden und wachenden Berge – schafft Donna Tartt es, ihre Leser in ihren kleinen Kosmos nach Hampden zu entführen, man taucht im Prolog hinein in diese merkwürdige Welt und erst mit dem letzten Satz des Buches wieder auf, benommen, verzaubert.
Die geheime Geschichte von Donna Tartt ist trotz Mordfall kein Kriminalroman, sie ist vielmehr ein Psychogramm der elitären Studenten, die der Schönheit in ihrer grausamsten Form huldigen und jeglicher Moral entbehren. Vor allen Dingen aber ist es ein großartiger Roman, der sich schon während der Lektüre als etwas ganz Besonderes herauskristallisiert, aber erst im Nachhinein richtig seine vollständige Kraft und Wirkung entfalten und mit seiner Komplexität beeindrucken kann.
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