Jan Brandt – Gegen die Welt

Jan-Brandt-gegen-die-Welt

Entwicklungsgeschichte, Sci-Fi Anleihen, Familiengeschichte, Wiedervereinigung und Dorfidylle. Jan Brandt schafft mit Gegen die Welt einen umfangreichen Roman, der sich keiner Kategorie zuordnen lässt und eine große thematische Vielfalt aufweist.

Mitte der Siebzigerjahre wird Daniel Kuper in die kleine Welt des Dorfes Jericho in Ostfriesland geboren. Die malerische Idylle wird nur ab und zu von einem Tiefflieger gestört, ansonsten läuft der Alltag geordnet und ohne große Überraschungen. Daniel, der Sohn eines Drogisten, ist ein schmächtiger Junge, der ziemlich viel Fantasie besitzt, diese aber in der Enge der Dorfgemeinschaft nicht ausleben kann. Doch schon bald passieren seltsame Dinge: Mitten im Sommer setzt heftiger Schneefall ein, ein Kornkreis entsteht, ein Schüler steht auf den Bahngleisen und an den Wänden werden aufgemalte Hakenkreuze entdeckt. Für alles wird Daniel verantwortlich gemacht, der sich, je mehr er sich wehrt und aufbegehrt, immer tiefer verstrickt.

Schon länger habe ich mit Jan Brandts Gegen die Welt geliebäugelt, mich aber immer wieder dagegen entschieden und doch wieder ein anderes Buch gelesen. Es jetzt endlich doch zu lesen, war eine intuitive Entscheidung, die absolut die richtige war. Warum mich Gegen die Welt so begeistern konnte (wann habe ich eigentlich das letzte Mal ein so gutes Debüt eines deutschen Autors gelesen?) könnt ihr im Folgenden lesen.

Jan Brandts Debütroman ist sowohl thematisch als auch mit knapp über 900 Seiten überaus ambitioniert. Doch, soviel sei schon mal vorweggenommen, ist Gegen die Welt trotz großer Themenvielfalt und kleinerer Längen absolut gelungen. Der Einstieg macht auch direkt Lust auf mehr: ein seltsamer Brief an Gerhard Schröder, in dem vor Doppelgängern und Plutoniern gewarnt wird, die die Kontrolle übernehmen wollen. Man erkennt sie an ihrem Blick. Danach findet sich der Leser unvermittelt in Jericho wieder, zwischen Ende der 1970er Jahren bis in die 1990er Jahre. Zu Beginn scheint alles seinen gewohnten Gang zu gehen. Wobei hier die Betonung auf „alles“ liegt. Denn Jan Brandt baut das Dorf und seine Gemeinschaft mit vielen Details auf, beschreibt den Aufbau des Dorfes genau, so dass auch jeder weiß, wo die Kirche, wo die Schule, wo welche Siedlungen und wo welche Geschäfte liegen. Ebenso detailliert werden die Beziehungen und Abhängigkeiten zwischen den Bewohnern geschildert. Der Leser ist sowohl beim Gottesdienst als auch beim Männergesangsabend direkt dabei und lernt alle Beteiligten kennen. Die Aufzählungen der Personen und Straßen ziehen sich manchmal über ganze Seiten, genauso wie die Listen des Sortiments der Drogerie.

In diese Welt, in der alles seine Ordnung haben muss und Unerklärliches oder Außergewöhnliches keinen Platz hat, wird Daniel Kuper geboren. Von Beginn an eher der Außenseiter, dauert es auch nicht lange und er macht sich unbeliebt. Er kommt nur mit einem Handtuch bekleidet mitten im Schnee (der seltsamerweise im Spätsommer fällt) nach Hause und kann sich an nichts erinnern. Gleichzeitig entsteht ein Kornkreis in der Nähe der Schule und nur kurze Zeit später wimmelt es im Dorf von Journalisten und bundesweit wird über die Vorkommnisse berichtet und diskutiert. Von Außerirdischen, den Plutoniern, ist die Rede. Im Zentrum des Ganzen steht Daniel. Die anderen vermuten, dass er nur Aufmerksamkeit sucht und fühlen sich in ihrer Ruhe gestört. Denn Daniel, der im Unterricht lieber Perry Rhodan liest als aufzupassen, ist voller Fantasie und etwas verträumt – der perfekte Sündenbock.

Das ergibt alles keinen Sinn, dachte Daniel. Mit einem Indoktrinator könnte er an sich selbst eine Hypno-Schulung durchführen, die Leistungsfähigkeit seines Gehirns vervielfachen und den Unterricht überflüssig machen. Er würde kein körperliches Empfinden mehr haben, sich an nichts erinnern, sein Gehirn würde mit Lichtgeschwindigkeit rechnen, im Unterbewusstsein. Er müsste nicht mehr überlegen, wenn ihm jemand eine Aufgabe stellte, wie schwierig sie auch sein mochte, müsste nichts mehr ausrechnen, nichts nachlesen, alles wäre erfasst und gespeichert und jederzeit abrufbar.

Mindestens so voller Fantasie wie Daniel scheint auch der Autor Jan Brandt zu sein. Anders ist es nicht zu erklären, wie er die Themen Jugend, Familie, Freundschaft, Dorfgemeinschaft, Musik, Erwachsenwerden, Wiedervereinigung und Politik so mühelos miteinander verbinden kann. Und dabei habe ich bestimmt Themen nicht aufgezählt. Jan Brandt erzählt vom Zerfall der Gemeinschaft, vom Existenzkampf der Geschäftsleute und von den Bewohnern Jerichos, die sich in einem Leben eingerichtet haben, das nicht ihren ursprünglichen Träumen entspricht.

Das Dorf war überall. Das war die Erkenntnis, die sich langsam in ihm ausbreitete. Er müsste schon sehr weit laufen, sehr weit fahren, um zu entkommen. Aber was dann? Was dann? So weit reichte seine Vorstellungskraft nicht aus.

Die Schuld an den Veränderungen geben die Jerichoer allein Daniel. Der flüchtet sich immer mehr in seine Science-Fiction Welten, freundet sich mit drei Jungs an, die einen Gleichaltrigen quälen, was diesen dazu treibt, auf den Bahngleisen Selbstmord zu begehen. Den Platz, den sich Jan Brandt genommen hat, nutzt er dabei gut. Zwischendrin werden scheinbar unwichtige Begebenheiten erzählt, die aber die kleine Welt Jerichos dafür umso greifbarer machen und seine Bewohner sowie ihre Denk- und Lebensweisen näher ausführen. Da macht es nichts aus, auch einmal mehr aus dem Leben des Pfarrers zu erfahren, den Daniel zur Weißglut treibt. Daneben gibt es einige kleine Einfälle zur Gestaltung des Romans. Mitten drin werden die Seiten geteilt und während oben die eigentliche Erzählung weiterläuft, nutzt der Autor den unteren Teil, um aus der Sicht eines Bahnfahrers zu erzählen, der erlebt, wie sich Menschen auf die Schienen legen, um ihr Leben zu beenden. Außerdem wird die Schrift blasser, wenn eine der Figuren kurz davor ist, das Bewusstsein zu verlieren. Gegen die Welt dreht sich aber keineswegs ausschließlich um Daniel. Vielen Figuren wird Platz eingeräumt. Jan Brandt zeigt exemplarisch ein Dorf, das in scheinbarer Idylle lebt, die aber nach und nach durch Veränderungen und die Globalisierung zerbricht. Hinter der Fassade von Skatrunden und Schützenfesten kommen nun all die Dinge zum Vorschein, die schon lange da waren, aber zur Wahrung des Scheins verschwiegen wurden. So scheint es außer Daniel auch niemanden zu stören, dass der Bürgermeisterkandidat seine Rede einfach aus Hitlers „Mein Kampf“ kopiert. Jeder Bewohner spielt die Rolle, die ihm zugedacht wurde, ob es ihm gefällt oder nicht.

Der Ton des Romans ist dabei alles andere als positiv und es ist ziemlich schnell klar, dass es Jan Brandt in keiner Weise darum geht, die Zustände als erstrebenswert darzustellen. Der Erzählton ist trotz der vielen Details deutlich distanziert. Eine wirkliche sympathische Figur lässt sich auch nicht finden.

„Ja klar“, sagte Daniel. „Das ganze Leben ist ein Traum, und irgendwann wachst du auf und bist tot.“

Gegen die Welt fordert seinen Lesern einiges ab, dafür bietet es aber auch viel. Wer keine Lust hat, sich durch viele Details zu kämpfen, oder sich mit scheinbar unwichtigen Personen, die dem großen Ganzen nur eine kleine weitere Facette hinzufügen, zu beschäftigen, der sollte einen weiten Bogen um den Roman machen. Wer aber Lust hat, sich auf ein Buch einzulassen, dass viele Themen gekonnt miteinander verknüpft und einen kleinen Kosmos aufbaut, der problemlos exemplarisch für einen größeren stehen kann, der sollte Jan Brandt und Gegen die Welt auf jeden Fall eine Chance geben.

 

 

6 Kommentare

Add Yours

Hinterlasse einen Kommentar

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..