Haruki Murakami – Mister Aufziehvogel

Murakami-Mister-Aufziehvogel

Wenn der Fluss nicht mehr fließt

Toru Okada ist seinen Job als Laufbursche in der Anwaltskanzlei endgültig leid und kündigt. Seine neu gewonnene Freizeit verbringt er damit, nach Arbeit zu suchen, sich mit dem jugendlichen Nachbarsmädchen May anzufreunden und das geheimnisvolle Grundstück des „Selbstmörderhauses“ am Ende der Gasse zu erkunden. Da seine Frau Kumiko von früh bis spät arbeitet, bittet sie Toru, sich wegen ihres verschwundenen Katers mit einer gewissen Malta Kano zu treffen – sie soll nicht die einzige seltsame Frau bleiben, die in Torus Leben tritt. Denn mit dem Verschwinden des Aufziehvogels aus seinem Garten gerät Torus Leben immer mehr aus den Fugen.

Ob nun zufällig hineingeraten oder nicht, der „Aufziehvogel“ spielte in Zimts Geschichte eine wichtige Rolle. Der Ruf dieses Vogels war nur für bestimmte, besondere Menschen vernehmbar, und sie wurden durch ihn unvermeidlich ins Verderben geführt. Dann aber bedeutete der menschliche Wille nichts, gerade so, wie es der Tierarzt offenbar stets empfunden hatte. Die Menschen waren nichts als mechanische Puppen mit einem Uhrwerk im Rücken, die auf einen Tisch gestellt wurden und sich auf vorgeschriebene Weise in vorgeschriebenen Bahnen bewegten, ohne daran etwas ändern zu können.

Haruki Murakamis Roman Mister Aufziehvogel beginnt langsam und unscheinbar, als Toru Okadas Leben noch in Ordnung ist und der Aufziehvogel täglich in seinem Garten zu hören ist. Nach und nach verschwinden jedoch Menschen aus seinem Leben, und andere, äußerst merkwürdige, treten hinein. Da wäre beispielsweise May Kasahara, das humpelnde Mädchen aus der Nachbarschaft, das immerzu rauchend im Garten liegt, anstatt zur Schule zu gehen. Oder Malta Kano, die Frau, die sich immer nur selbst meldet, aber unter keiner Nummer oder Adresse zu erreichen ist. Oder auch die mysteriöse Anruferin, die Toru beim Spaghettikochen stört und ihn ständig zum Telefonsex auffordert.

Es war die Wirklichkeit. Die wahre Wirklichkeit. Aber jedesmal, wenn ich dies als Tatsache zur Kenntnis nahm, fühlte sich die Wirklichkeit ein bisschen weniger wirklich an. Die Wirklichkeit löste sich allmählich auf und rückte, Schrittchen für Schrittchen, von der Wirklichkeit ab. Aber Wirklichkeit war es doch.

Mit dem Verschwinden und Eintreten gewisser Personen verändert sich Torus Leben drastisch. Er weiß selbst nicht mehr genau, wer er ist und wie er seine alte Welt zurück bekommen soll. Deshalb zieht er sich an einen abgeschiedenen Ort zurück, um dort in Ruhe nachdenken zu können. Das führt allerdings eher dazu, dass er sein Ich immer mehr aus den Augen verliert. Die Frage nach dem Ich zieht sich durch den gesamten Roman. Wer bin ich und wenn ja, wie viele? Die Protagonisten haben mehrere Ichs, die sich voneinander abzuspalten scheinen. An diesem bestimmten Ort gelingt es Toru außerdem, in eine andere Welt überzutreten. Wo ist er dort gelandet und wie gelangt er wieder hinein? Gewohnt surreal, ähnlich wie in Kafka am Strand, Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt oder 1Q84, lässt Murakami unsere Welt mit einer fremden verschmelzen, einer Welt, die vielleicht nur in Torus Kopf existiert, vielleicht aber auch in seiner Wirklichkeit. Bemerkenswert finde ich hier die Ähnlichkeiten zu Tanz mit dem Schafsmann (das Hotel) sowie zu 1Q84 (eine bestimmte Person).

Dennoch durchfuhr mich die Einsamkeit von Zeit zu Zeit wie ein stechender Schmerz. Selbst das Wasser, das ich trank, selbst die Luft, die ich atmete, fühlten sich dann wie lange scharfe Nadeln an. Die Seiten eines Buches, das ich in den Händen hielt, nahmen den bedrohlich metallischen Glanz von Rasierklingen an. Um vier in der Frühe, wenn die Welt schwieg, konnte ich die Wurzeln der Einsamkeit durch mich hindurchkriechen hören.

Toru Okada erhält eines Tages den Rat, er solle warten, wenn das Wasser aufhört zu fließen. Nachdem er seinen Job kündigt und andere Geschehnisse eintreten, tut er genau das. Er lässt sich treiben, statt in Panik zu verfallen. Er wartet darauf, dass das Wasser wieder fließt, er sucht es auf dem Grund eines Brunnens. Auch die seltsame Malta Kano, ein Medium der besonderen Art, warnt ihn vor dem Element Wasser. Doch Torus Schicksal scheint zu sehr damit verwoben zu sein, als dass er es meiden könnte. Während der Fluss stoppt, scheinen die Charaktere ein Leben als „leere Hülse“ zu führen, sie haben das Gefühl, ihre Identität, ihren Lebenssinn verloren zu haben und nur so vor sich hin zu leben, ohne jegliche Leidenschaft – so geht es Toru, May und noch weiteren Personen, auf die „Mister Aufziehvogel“ trifft. Obwohl all diese Charaktere faszinierend sind, da natürlich auch gewohnt verrückt, sticht vor allem May Kasahara heraus. Zeitweise nervtötend, zeitweise liebenswürdig, besitzt sie trotz ihrer kindlich-naiven Art ihre eigene Weisheit. Sie ist es, die Toru die Augen öffnet, wenn er das Offensichtliche nicht erkennen kann, und sie scheint das Wasser in seinem Leben immer wieder ein bisschen zum Fließen zu bringen.

Wenn man sich lautlos durch solch eine vollkommen trostlose Landschaft bewegt, kann man bisweilen der übermächtigen Halluzination erliegen, dass man sich als Individuum allmählich auflöst. Der umgebende Raum ist so unermesslich groß, dass es zunehmend schwerer wird, ein Bewusstsein von sich selbst aufrechtzuerhalten. Ich weiß nicht, ob ich mich verständlich ausdrücke. Das Bewusstsein weitet sich immer mehr aus, bis es die ganze Landschaft ausfüllt, und wird dabei so diffus, dass man zuletzt außer Stande ist, es an die eigene Körperlichkeit gebunden zu halten.

Anfangs fand ich es schwierig, eine Verbindung zwischen all den Charakteren und Ereignissen herzustellen. Es war interessant, mysteriös und traumgleich wie auch sonst bei Murakami, aber ich wusste noch nicht, wohin genau das alles führen soll. Das bedeutet, dass diese Verbindungen entweder nicht so offensichtlich waren, oder ich ein wenig blind war, zu tief in der Traumwelt, als dass ich sie hätte sehen können. Egal, was von beidem der Fall ist, es spricht auf alle Fälle für den Roman, da mich die Auflösung letzten Endes definitiv überraschen und verstören konnte.

Was mich das Leben kostete, was mein Leben in diese leere Hülse verwandelte, was, wie ich glaube, etwas, was sich in dem Licht verbarg, das ich auf dem Grund des Brunnens sah – jenem gleißenden Sonnenlicht, das für die Dauer von zehn oder zwanzig Sekunden bis ganz hinunter auf den Grund des Brunnens drang. Es kam ohne jede Vorwarnung, und es verschwand wieder ebenso unvermittelt. Aber in jener flüchtigen Lichtflut sah ich etwas – sah ich etwas ein für allemal – , das mir danach nie wieder zu sehen vergönnt sein sollte. Und nachdem ich es gesehen hatte, war ich nicht mehr derselbe Mensch, der ich gewesen war.

Etwas, das in Mister Aufziehvogel heraussticht, ist der große Bezug zum zweiten Weltkrieg, genauer gesagt zur japanischen Besetzung der Mandschurei sowie zum japanisch-sowjetischen Grenzkonflikt. Beide Themen werden durch zwei alte Kriegsveteranen, die mit Toru in Kontakt stehen, detailliert erzählt. Während die Besetzung der Mandschurei anfangs noch uninteressant schien (da sich in der Erzählung des Leutnants kaum etwas ereignete), wurde es plötzlich zu einem der brutalsten Momente aus Murakamis Romanen – neben der grausamen Katzen-Szene aus Kafka am Strand. Die zweite Erzählung, welche sich um das sowjetische Kriegsgefangenenlager dreht, war zwar ganz spannend, hat für mich jedoch bis auf wenige Sätze nicht so viel zum weiteren Verlauf des Romans beigetragen und hätte definitiv kürzer ausgeführt werden können, ebenso wie die Hintergrundgeschichte von Muskats Vater.

Einer von Murakamis besten Romanen

Am Ende des Romans fühlt es sich wieder an, als würde man aus einem Traum aufwachen, einem seltsamen, vielschichtigen Traum, der mehr Fragen aufwirft, als er beantwortet. Aber gerade das macht ja den Reiz an Haruki Murakamis Büchern aus. Das muss man eben lieben oder hassen. Für mich persönlich steht immer noch Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt an der Spitze, aber nichtsdestotrotz ist Mister Aufziehvogel ein großartiger Roman, einer von Murakamis besten, der sich zwischen den Welten bewegt und sich mit der menschlichen Identität, der Einsamkeit sowie dem Umgang mit Leid beschäftigt. Nach der Lektüre hallen noch unglaublich viele Gedanken im Kopf nach.

5 Kommentare

Add Yours
    • letusreadsomebooks

      Ich glaube, man sollte eigentlich alle seine Bücher ein zweites Mal lesen.Man würde so viele Dinge erkennen und verstehen, die einem bei der ersten Lektüre verschlossen bleiben. Ich habe das Gefühl, dort gibt es so viel zu entdecken, dass man es gar nicht auf einmal schaffen kann. ;)

      Gefällt 1 Person

      • thevelvetletters

        Geht mir mit vielen Büchern so, man entdeckt jedes Mal noch etwas Neues oder erhält einen anderen Blickwinkel. Davon abgesehen lese ich beim ersten Mal auch immer viiiieeel zu schnell ^^

        Gefällt 1 Person

Hinterlasse einen Kommentar

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..