Wie viel Leid kann ein Mensch ertragen? Hanya Yanagihara und der unendliche Schmerz in „Ein wenig Leben“.

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Täglich geschehen irgendwo auf der Welt traumatisierende Dinge. Krieg und Flucht sind heutzutage offensichtliche Gründe, doch es gibt immer noch genügend Menschen, die Opfer von Gewalt und Missbrauch werden. Laut WHO-Statistik leidet allein in Europa jeder 15. an schweren Depressionen. 18 Millionen Kinder wurden sexuell missbraucht, 44 Millionen Kinder körperlich misshandelt.

Was das für das eigene Seelenheil bedeutet, lässt sich als Nichtbetroffener nicht einmal annähernd erahnen. Depressionen, Verdrängung, Selbstzerstörung – der unerträgliche Wunsch, seinem Leiden endlich ein Ende zu setzen. Dies alles existiert, aber oftmals wird darüber geschwiegen. Es sind noch immer Tabuthemen, auch in unserer heutigen liberalen Gesellschaft. Doch in Kunst, Film und Literatur finden sie einen Ort, an dem sie die Menschen erreichen können. Betroffene, die sich verstanden fühlen, die sehen, dass sie nicht allein sind. Menschen, die bisher kaum darüber informiert waren und einen Einblick in eine erschreckende Welt erhalten. Hanya Yanagiharas Roman „Ein wenig Leben“ gehört zu dieser Art der Literatur. Er ist am 31.01. im Hanser Verlag erschienen.

Schmerz und Liebe in all ihren Facetten

„Ein wenig Leben“ erzählt die Geschichte vierer Freunde über rund 30 Jahre hinweg, angefangen bei ihrer College-Zeit. Jude, Willem, JB und Malcolm lernen sich in jungen Jahren kennen, als fast alle von ihnen noch sorglos sind. Außer Jude – er hat Schwierigkeiten beim Laufen, es gab da einen Unfall vor einigen Jahren, und er trägt auch bei der größten Hitze langärmlige Hemden. Was sich dahinter verbirgt, lernen die Freunde erst Jahre, Jahrzehnte später. Für sie ist Jude ihr guter Kumpel, mit dem man Spaß haben und tiefgründige Gespräche führen kann. Jahr um Jahr vergeht, die vier Jungs werden erwachsen und meistern den Einstieg ins Berufsleben. Malcolm wird Architekt, Willem träumt von der großen Schauspielkarriere, während er sich mit Kellnern über Wasser hält. JB hat sich einen Namen als Fotograf gemacht und Jude arbeitet in einer angesehenen Anwaltskanzlei. Die Partner kommen und gehen, nur nicht bei Jude, der sich überhaupt nicht für Liebe und Sexualität zu interessieren scheint.

„Mein Leben, wird er denken, mein Leben. Aber weiter wird er nicht denken können, und er wird diese Worte im Geiste wiederholen – Mantra, Fluch und Ermutigung zugleich.“

Anfangs wechselt Yanagihara noch die Erzählperspektive: abwechselnd erhält der Leser Einblicke in Willems, JBs, Judes und Malcolms Leben und Vergangenheit. Dann aber treten JB und Malcolm über hunderte Seiten hinweg fast komplett in den Hintergrund und überlassen Jude die Bühne – während Willem gelegentliche Gastauftritte hat. Wie schon auf den ersten Seiten angedeutet wurde, trägt Jude tiefe seelische Narben mit sich herum. Stück für Stück schildert die Autorin in Rückblenden, wie Jude als Baby in der Nähe eines Klosters im Müll ausgesetzt wurde, von den Mönchen aufgezogen, misshandelt und gequält wurde, mit Bruder Luke aus dem Kloster floh und verschwand. So tragisch sein Leben bis dato schon war, so grausam geht es weiter. Jude gerät immer an die falschen Menschen, bis er seine drei Freunde kennenlernt, sowie Harold, seinen Mentor und Ziehvater, und Andy, seinen Arzt, der als einziger Judes Narben sehen und von seinen körperlichen Schmerzen erfahren darf.

Es ist schwierig, fast unerträglich, über Judes Vergangenheit zu lesen. Der Roman beschreibt die Gewalt, Misshandlungen und ihre Auswirkungen auf den hilflosen Jungen, bzw. später den Mann, so intensiv, dass Pausen notwendig sind, um das Gelesene und all die transportierten Emotionen zu verarbeiten. Es ist schwere Kost, die sich oftmals stark an der Grenze des Erträglichen bewegt. Die Gegenwart konstruiert Yanagihara ebenfalls schonungslos, heftig, dramatisch: Judes Vergangenheitsbewältigung ist vollkommen destruktiv, er fügt sich selber Schmerzen zu durch Schnitte mit der Rasierklinge. Es ist die einzige Möglichkeit für ihn, die inneren Dämonen, seine Hyänen, wie er sie nennt, im Zaum zu halten. Es ist das Einzige, was Jude weiterleben lässt, das Einzige, was das Leben für ihn halbwegs erträglich macht. So sehr er seine Freunde auch liebt, ohne seine Selbstverstümmelung wäre Jude nicht überlebensfähig und würde an seinen Depressionen und seinem Schmerz zu Grunde gehen.

Nicht wegsehen!

Doch während Jude sich immer weiter abwärts bewegt, seine Dämonen immer größer werden lässt, sehen sich seine Freunde nicht imstande zu helfen. JB bricht zeitweise den Kontakt zu Jude ab, denn es geht immer nur um den gequälten jungen Mann und seine körperlichen Missstände. Was sich dahinter verbirgt, vermag JB nicht zu erkennen, zumindest nicht im ersten Augenblick. Auch Willem, Andy und Harold können nichts tun, obwohl sie genau wissen, was Jude nachts hinter verschlossener Badezimmertür macht.

„Aber ich weiß, dass Du Dich schuldig gefühlt hast. So wie ich mich schuldig gefühlt habe. Schuldig, weil ich etwas getan habe, das schlimmer gewesen ist, als es zu akzeptieren: Ich habe es toleriert. Ich habe mich dafür entschieden zu vergessen, dass er es tat, weil es zu schwierig war, eine Lösung zu finden, und weil ich mich an dem Menschen erfreuen wollte, als der er von uns gesehen werden wollte, obwohl ich es besser wusste.“

Yanagihara spricht damit ein wichtiges Thema an: Wie helfe ich Menschen, die keine Hilfe akzeptieren wollen? Wie lange darf ich so tun, als würde ich nichts sehen? Wann hört Freundschaft auf und wann beginnt Verantwortung? Eine Lösung für das Problem kann sie zwar nicht geben, aber sie zeigt, wie schwierig psychische Erkrankungen und Traumata nicht nur für die Betroffenen selbst, sondern auch für ihre Freunde und Familien sind. Hilflose Menschen, am Ende ihrer Möglichkeiten. Die Vergangenheit verzehrt diejenigen, die Jude lieben, genauso wie ihn selbst. Und niemand von ihnen kommt dagegen an. Gerade diese Erkenntnis ist es, die einen so erschüttert.

Bedingungslose Liebe als Schlüssel zu einem besseren Leben

Auch wenn die Liebe von Willem, Harold und Andy nicht ausreicht, um Jude von seinen Dämonen zu heilen, so macht sie sein Leben doch um einiges erträglicher. Zwischen den hunderten Seiten voller Schmerz, Qual und Leid stecken so viele schöne Momente verborgen, die zwar nicht alles Schlechte ungeschehen machen können, dennoch ein kleiner Lichtblick sind zwischen all den Grausamkeiten.

„Ich glaube, der Trick bei Freundschaften besteht darin, Menschen zu finden, die besser sind als man selbst – nicht klüger, nicht cooler, sondern liebenswürdiger und großzügiger und nachsichtiger -, und sie dann für das wertzuschätzen, was sie dir beibringen können, und ihnen zuzuhören, wenn sie dir etwas über dich sagen, ganz egal wie schlecht – oder gut – es ist, und ihnen zu vertrauen, was der schwierigste Teil ist. Aber auch der beste.“

Die Freundschaft von Jude, Willem, JB und Malcolm hat zwar auch ihre Tiefpunkte, doch letzten Endes ist sie stark genug, um zu überdauern. In ihr, und auch in den anderen Freundschaften die porträtiert werden, steckt eine unglaubliche Schönheit, die wirklich berührend ist. Durch die bedingungslose Liebe, die beispielsweise Harold und Willem für Jude empfinden, werden diese beiden Personen so lebendig, dass es fast unmöglich ist, keine Empathie für sie und ihre hilflose Situation zu fühlen. Yanagihara schafft es, mit ihrer Erzählweise und sprachlichen Feinfühligkeit fiktive Charaktere zu erschaffen, mit denen sich ein Leser so verbunden fühlen kann wie selten in der modernen Literatur.

Zu viel des Guten?

Ist diese übertriebene Darstellung von Judes Leid nicht effekthascherisch? Manipuliert Yanagihara den Leser durch gezielte Emotionen? Die (Un)menge des menschlichen Schmerzes ist genau das, was „Ein Wenig Leben“ so polarisierend macht. Vielleicht muss es ja effekthascherisch und manipulativ sein, um überhaupt zu uns sprechen zu können. Allein durch diese überspitze Darstellung gelingt es der Autorin in der heutigen Zeit, in der allein die Lektüre der Tageszeitung schon betroffen macht und jeder Tatort den vorherigen an Drama übertrifft, etwas tief im Leser zu berühren. Vielleicht muss Yanagihara immer wieder eine Schippe drauflegen, damit wir uns der Seriosität und Wichtigkeit der Themen bewusst werden und sie nicht wie den Inhalt der letzten zehn gelesenen Romane irgendwo ganz weit hinten in unserem Gedächtnis verstauen. Und genau das gelingt ihr: Sobald die letzte Seite gelesen ist, ist die Geschichte noch lange nicht vorbei. Sie geht in unseren Köpfen weiter, beschäftigt uns um drei Uhr nachts und morgens auf dem Weg zur Arbeit. Es gibt so vieles, worüber wir nachdenken können und müssen und es gibt so viele Emotionen, die wir erst einmal verarbeiten müssen, bevor wir uns wieder einem anderen Buch widmen können. Das hat schon lange kein Roman mehr geschafft.

Die US-Amerikanerin Hanya Yanagihara wurde 1974 geboren. Sie arbeitete als Journalistin für das Reisemagazin Conde Nast Traveler und als stellvertretende Herausgeberin von T: The New York Times Style Magazine. 2013 erschien ihr erster Roman „The People in the Trees“, der bisher nicht ins Deutsche übersetzt wurde. 2015 folgte „Ein wenig Leben“, in Deutschland erschienen am 31.01.2017. Dieser Roman stand unter anderem auf der Shortlist des Man Booker Prize, des National Award und des Bailey Prize. Eine Verfilmung durch Produzent Scott Rudin (No Country for Old Men, The Social Network u.a.) ist bereits in Planung.

 

Dieser Text ist erstmals auf dem Blog des Katholischen Bildungswerks Wuppertal erschienen.

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